BLICK: Herr Battegay, wir leiden seit einem Jahr unter der Corona-Pandemie. Ein Lichtblick sind nun verschiedene Impfstoffe. Ist der Spuk also bald zu Ende?
Manuel Battegay: Die Impfung ist sehr gut. Es ist also denkbar, dass es recht bald im Spätfrühling oder Sommer, wenn genügend Menschen geimpft sind, zu deutlich weniger und kleineren Ausbrüchen kommt, die auch schneller unter Kontrolle gebracht werden können. Dann wäre die Epidemie in dieser Form recht bald vorbei, ja. Das bedingt jedoch, dass sich viele Menschen impfen lassen. Hier bin ich zuversichtlich, weil die meisten Menschen wahrnehmen, wie schwer die Krankheit verlaufen kann. Am wichtigsten ist, die Krankheitslast durch das Impfen vulnerabler Menschen deutlich zu reduzieren.
Und die Mutanten können daran nichts ändern?
Leider doch. Die meisten Mutanten sind in der Regel weniger fit oder nicht überlebensfähig. Aber, wie wir ja jetzt an den Varianten aus Grossbritannien, Südafrika und Brasilien sehen, gibt es Ausnahmen, und Mutanten verbreiten sich schneller. Die Wahrscheinlichkeit, neue Mutationen zu verhindern, steigt, indem man die Virenzirkulation und somit die Fallzahlen tief hält.
Wirken die Impfstoffe auch gegen die Mutanten?
Soweit wir bis jetzt wissen, ja. Allerdings lernen wir, dass die Impfung gerade für Mutanten eine gute Immunabwehr stimulieren muss. Hier gilt es nun, die vielen Resultate aus Studien, die publiziert werden, zu analysieren. Wir haben ja auch schon vernommen, dass neue Impfstoffe gegen Virusmutanten entwickelt werden, falls wir gegen eine Virusmutante durch die Impfung weniger geschützt wären. Aber ein Virus kann höchstwahrscheinlich nicht mehrfach einer Abwehr, die durch eine Impfung stimuliert wird, ausweichen, ohne die Fitness zu verlieren.
Wie wahrscheinlich ist es, dass ein Virus so mutiert, dass es eine Impfung ausschaltet?
Das ist leider möglich, aber bereits eine Restwirkung würde einen Einfluss auf die Epidemie haben.
Also wird sich Corona zu einer ähnlichen Krankheit wie die Grippe entwickeln? Sie ist zwar immer da, aber wer geimpft ist, sollte nicht gross beeinträchtigt werden?
Das halte ich mittelfristig für ein realistisches Szenario. Das Virus ist noch da, aber es wird unser Leben nicht mehr dominieren. Die Impfwirkung ist sehr gut, aber nicht ganz 100 Prozent. Es wird also Menschen geben, die trotz Impfung krank werden. Aktuell ist es schwer abzuschätzen, wie lange es geht, bis ein Zustand einer Grippesituation erreicht ist.
Sie geben keine Prognose ab, wann es so weit sein wird?
Wenn wir viel Glück haben, Ende 2021. Allerdings können wir ein pessimistisches Szenario nicht ganz ausschliessen: Das heisst, dass das Virus neue Wege findet, das Immunsystem zu überwinden, ohne gross an Fitness zu verlieren. Auf Dauer ist dies zwar unwahrscheinlich, aber leider nicht ausgeschlossen.
Zumal wir nicht wissen, wie lange die Impfung wirkt.
Es gibt hervorragende Impfstoffe wie jene gegen das Hepatitis-A und -B-Virus: Da gibt es einen praktisch 100-prozentigen langanhaltenden Schutz. Es ist ein ganz hervorragender Fortschritt, dass Corona-Impfstoffe mit einer Wirksamkeit von bis 95 Prozent so schnell entwickelt werden konnten. Über die Länge des Impfschutzes haben wir verständlicherweise noch keine Daten. Wir haben aber glücklicherweise Impfstoffe, die relativ schnell an Mutationen angepasst werden könnten.
Aber wie sieht es mit Neuansteckungen aus? Wie lange ist man immun, wenn man bereits infiziert war?
Die Daten weisen darauf hin, dass die Antikörper nach einer Infektion respektive Krankheit für mindestens drei bis sechs Monate und wahrscheinlich länger schützen. Zweitinfektionen sind selbst nach einem Jahr selten.
Geben Geimpfte das Virus weiter?
Erste Daten zeigen, dass geimpfte Menschen weniger häufig positive Tests aufzeigen. Wenn eine Infektion doch auftritt, dann ist die Viruslast jeweils messbar tiefer und auch kürzer. Es ist also möglich, dass eine geimpfte Person noch ansteckend ist, aber aufgrund erster Daten können wir annehmen, dass dies viel weniger stark und viel kürzer der Fall ist als ohne Impfung. Und das Wichtigste: Die Krankheit verläuft mit Impfung, was bisherige Daten zeigen, milder. Wie es sich mit den neusten Mutanten zeigt, muss noch analysiert werden.
Andererseits zeigt eine Antikörperstudie aus Brasilien nun, dass neue Mutationen auftreten, die auch zu Zweitinfektionen führen. Was bedeutet das?
Das ist ein eindrückliches Beispiel, dass dieses Virus eine Bevölkerung mehrfach in mehreren Wellen heimsuchen kann, weil jede Welle zwar die Herdenimmunität steigert, aber dies noch nicht genügt. Es wird wichtig sein, dort zu schauen, wie viele Reinfektionen tatsächlich stattfinden und vor allem, wie diese verlaufen. Wenn sie generell milde sind, ist es das, was wir jährlich mit der Grippe sehen. Das heisst, dass viele Menschen infiziert werden und «nur» ein relativ kleiner Teil daran erkrankt und davon nur wenige schwer. Aber für die Sars-CoV-2 Infektion kennen wir diese Daten noch nicht so, dass wir uns ein Bild machen können.
Im deutschsprachigen Raum wird gerade die No-Covid-Strategie diskutiert. Demnach muss man den Lockdown noch einige Wochen beibehalten und eventuell wegen der Mutationen verschärfen – so lange, bis die Inzidenz unter 10 liegt. Was halten Sie davon?
Ich sehe das kritisch. Im Sommer hatten mehrere Länder entsprechend der Definition null Covid und trotzdem nachfolgende Wellen. Viel wichtiger finde ich, jetzt die Fallzahlen so tief zu halten, dass sie für Testkapazitäten, Contact Tracing und Gesundheitswesen bewältigbar sind und das Risiko eines Neuanstiegs reduzieren. In der Schweiz muss sich die Impfkampagne voll entfalten können. Lassen Sie mich einen wichtigen Punkt machen: Massnahmen sind nur so gut, wie sie in der Bevölkerung akzeptiert und umgesetzt werden. Das ist der wichtigste Faktor in der Epidemienbekämpfung: der Einsatz jedes Einzelnen. An den Feiertagen hat man eindrücklich gesehen: Viel mehr Menschen liessen sich testen und viele haben sich, ihre Angehörige und andere mit Kontaktreduktion und Social Distancing geschützt. Man wird sich jetzt mit Szenarien zur Massnahmen-Lockerung und -Anpassung beschäftigen müssen, die Taskforce arbeitet auch daran. Es braucht eine langfristige Strategie, die Mutationen und Anpassungen bei nachlassenden Impfwirkungen einbezieht. Über längere Zeit sind strikte einschränkende Massnahmen nicht haltbar.
Wozu raten Sie als Spezialist konkret?
Ich denke nach wie vor, dass der Fallzahl und Verimpfung entsprechende Massnahmen, der Selbst- und Gemeinschaftsschutz und das Akzeptieren auch schwerer Krankheit und des Todes dazu gehören. Ich finde es richtig, dass nun vermehrt im Bewusstsein der Schwere der Krankheit Diskussionen geführt werden, die das wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Leben miteinbeziehen. Sehr viel hängt davon ab, ob jeder Einzelne eigenverantwortlich handelt und ob vulnerable Menschen noch besser geschützt werden können, ohne sozial isoliert zu werden. Dazu braucht es alle. Sollte die Situation wieder sehr schlimm werden, wie soeben in einigen Ländern Europas, müssten wieder striktere Massnahmen eingeführt werden. Wir sollten jetzt wirklich darauf schauen, die Impfkampagne nicht zu gefährden. Das ist unsere beste Chance, auf Dauer nicht auf- und zutun zu müssen. Elementar ist, dass die Kantone jetzt die Testkapazitäten und das Contact Tracing so aufstocken, dass man auf den Epidemienverlauf gut datengestützt reagieren kann.
Braucht es europaweit koordinierte Schliessungen, bis die Impfung durch ist, sodass wir nachher wie Australien als Kontinent praktisch coronafrei wieder normal leben können? Oder bringt das nichts?
Auch das sehe ich kritisch. Wir sollten wie vor und an Weihnachten, Neujahr viel konkreter illustrieren, auch an effektiven Beispielen, wie die Balance von Massnahmen, Eigenschutz und Solidarität zu weniger Fällen führen kann. Das ist aus meiner Sicht viel wichtiger. Setzt man mehr auf Eigenverantwortung, braucht es auch verantwortungsvolle Kommunikation von allen Meinungsführern – auch seitens der Gesundheitsfachpersonen und der Politik. Als Mediziner sehe ich das aus der Spitalpraxis. Die Menschen schätzen gemeinsam erarbeitete Handlungsanleitungen und daraus resultierende klare Botschaften in einer Gesundheitskrise. Dann funktioniert auch der eigenverantwortliche Umgang besser. Dies hat an Weihnachten und Neujahr auch gut geklappt. Dazu gehört auch, dass man überall in der Schweiz viel mehr testet. Wenn jemand asymptomatisch oder nur mit milden Symptomen positiv getestet ist und das weiss, passt er sein Verhalten auch an und kann über das Contact Tracing mögliche weitere Betroffene informieren.
Manuel Battegay (60) leitet seit knapp 20 Jahren die Klinik für Infektiologie und Spitalhygiene am Unispital Basel. Ausserdem sitzt er derzeit im vierköpfigen Leitungsteam der wissenschaftlichen Covid-Taskforce des Bundes. Der Basler kommt aus einer Ärztefamilie: Schon sein Vater war Chefarzt in Basel, einer seiner Brüder arbeitete als Chefarzt am Unispital Zürich. Battegay ist verheiratet und zweifacher Vater.
Manuel Battegay (60) leitet seit knapp 20 Jahren die Klinik für Infektiologie und Spitalhygiene am Unispital Basel. Ausserdem sitzt er derzeit im vierköpfigen Leitungsteam der wissenschaftlichen Covid-Taskforce des Bundes. Der Basler kommt aus einer Ärztefamilie: Schon sein Vater war Chefarzt in Basel, einer seiner Brüder arbeitete als Chefarzt am Unispital Zürich. Battegay ist verheiratet und zweifacher Vater.