Deutscher Epidemiologe widerspricht der Corona-Taskforce
«Die Virus-Ausbreitung hat sich nicht beschleunigt»

Der ehemalige WHO-Funktionär Klaus Stöhr erklärt im BLICK-Interview, warum die Mutationen kein Grund zur Panik sind – und was die Schweiz jetzt dringend braucht.
Publiziert: 12.02.2021 um 01:51 Uhr
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Aktualisiert: 11.03.2021 um 11:44 Uhr
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Der Virologe und Epidemiologe Klaus Stöhr arbeitete in leitenden Funktionen für die WHO und Novartis.
Foto: imago images/teutopress
Interview: Fabienne Kinzelmann

«Ach, die Schweiz!», seufzt Epidemiologe Klaus Stöhr (62) sehnsüchtig beim Telefonat mit BLICK. «Da wäre ich jetzt auch gerne Ski fahren!» Der ehemalige Direktor des Influenzaprogramms der WHO lebt normalerweise auch in der Nähe von Zürich. Gerade ist er aber in Deutschland – nicht wegen der hohen Corona-Zahlen hierzulande, sondern weil seine Kinder dort wohnen.

BLICK: Herr Stöhr, die Schweiz zittert vor den Corona-Mutationen. Aber Sie finden: Die Mutationen werden überschätzt.
Klaus Stöhr: Man sollte sich die Fakten und Zahlen anschauen. Als die britische Variante Ende vergangenen Jahres auftauchte, sahen die Berechnungen noch so aus, als wäre sie signifikant ansteckender. Mittlerweile liegen empirische Daten für Irland, England, Belgien, Dänemark oder auch die Schweiz vor. Trotz verschiedener Lockdown-Szenarien hat sich – bei einem stetigen ansteigenden Varianten-Anteil – die Virusausbreitung nicht beschleunigt. In der Schweiz und in Dänemark, wo die Varianten zunehmen, ist die Kurve linear abfallend. In Irland und England haben sich die Fälle um 80 beziehungsweise 60 Prozent reduziert – also ein dramatischer Abfall bei gleichzeitiger drastischer Zunahme der Variante. Jetzt können wir also entweder die Wirklichkeit anpassen – oder das Modell. Jetzt gilt es diese Beobachtungen bei der Bekämpfung zügig zu berücksichtigen; eine Auswirkung der Varianten als Raketenturbo für die Ausbreitung liegt wohl eher nicht vor.

Also ist die britische Variante nicht so ansteckend wie befürchtet?
In der Realität der Bekämpfung offensichtlich nicht, das ist ja auch das entscheidende für den Schutz der Bevölkerung. Dass ein Wechsel in der Strategie notwendig ist, kann ich anhand der Inzidenzkurven nicht ablesen.

Was ist mit der Mutation aus Südafrika?
Das ist noch mal eine andere Grössenordnung. Die ist vermutlich schon durch einen gewissen Immundruck entstanden. Es kann aber auch gut sein, dass sie wieder verschwindet – und zum Beispiel von der britischen verdrängt wird.

Aber die Impfstoffe scheinen gegen sie nicht gleich wirksam zu sein.
Moment, da muss man die Studien genau anschauen. Südafrika hat die Nutzung des Astrazeneca-Impfstoffs ausgesetzt, weil Wirksamkeitsstudien bei jüngeren Menschen keinen signifikanten Schutz gegen leichte Erkrankungen ergeben haben. Ältere wurden dabei gar nicht einbezogen. Das heisst aber nicht, dass er nicht auch gegen schwere Erkrankungen wirken kann. Noch vor fünf Monaten hätten wir uns über einen Impfstoff mit 50 Prozent Wirksamkeit gefreut. Unabhängig davon, ob sich diese Variante ausbreitet oder eine andere kommt: Es ist jetzt wichtig, dass sich die Leute impfen lassen – egal, mit welchem Impfstoff. Alle verfügbaren Impfstoffe helfen, schwere Verläufe und Todesfälle zu vermindern. Und damit, dass Friedhöfe und Krankenhäuser leer bleiben.

Bei Ihnen klingt es, als wären die Mutationen kein Problem. Aber können daraus nicht wieder neue Varianten entstehen – die dann vielleicht noch gefährlicher sind?
Es ist immer ein Problem, wenn ein neues Virus da ist. Vom Coronavirus wurden allein in den vergangenen Monaten 7000 verschiedene Varianten entdeckt. Die meisten davon verschwinden wieder. Aber es werden immer wieder neue entstehen, das gehört mit dazu.

Wiegt uns das nicht in falsche Sicherheit, wenn Experten wie Sie jetzt sagen, wir sollen keine Angst vor den Mutationen haben?
Die Überwachung der Varianten bleibt wichtig, schon wegen der möglichen Beeinflussung der Impfstoffwirksamkeit. Aber bislang unterscheiden sie sich bei der Bekämpfung wohl nur unwesentlich. Klar ist, dass uns das Virus selbst vermutlich über Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte erhalten bleibt. Es ist jetzt absehbar, dass die britische Variante in einem halben Jahr die «normale» in den meisten Ländern ist. Die Abstands- und Hygieneregeln gelten also genauso.

Reichen denn die aktuellen Massnahmen?
Das kommt darauf an, wen Sie fragen. Schauen Sie: Der Intensivmediziner ist für die Verschärfung, sobald die Krankenhäuser überlaufen – der Virologe ist dafür, wenn er die Variante B117 vor sich sieht. Und der Psychiater wird auf jeden Fall für offene Schulen und Kindergarten plädieren. Diese Einzelmeinungen bringen nichts. Es braucht ein nationales Expertengremium verschiedener Fachbereiche, wie das auch die Schweiz mit der Taskforce hat. Und die muss eine rationale Risikoeinschätzung bezüglich der Varianten treffen.

Die Taskforce warnt trotz sinkender Fallzahlen vor Lockerungen – im BLICK sprach sich Taskforce-Chef Martin Ackermann am Mittwoch sogar eher noch für Verschärfungen aus.
Die Schweiz und Deutschland brauchen einen Stufenplan. Es muss klar sein, ab welcher Inzidenz welche Massnahmen gelten.

Die Schweiz hält die Schulen offen. Ist das aus Ihrer Sicht richtig?
Das Schliessen von Kindergärten und Schulen ist die Ultima Ratio – das sollte man nur machen, wenn die Intensivstationen überlaufen. Deswegen finde ich es völlig richtig, was die Schweiz macht.

Die «No Covid»-Initiative bekommt immer mehr Zustimmung: Einfach alles für ein paar Wochen komplett dichtmachen – Problem erledigt. Ist das noch realistisch?
Australien und Neuseeland haben das eigentlich richtig gemacht: die Grenzen geschlossen und jeder Ausbruch wird mit hartem Lockdown ausgelöscht. Wenn alle geimpft sind, kann geöffnet werden und mit den Touristen wird dann das Virus kommen. Das geht in Deutschland oder in der Schweiz in Mitteleuropa wohl nur theoretisch. Realistisch müssen wir einen anderen Weg nehmen und den für uns besten Kompromiss finden zwischen den gesundheitlichen Auswirkungen, den wirtschaftlichen Beeinträchtigungen und den freiheitlichen Einschränkungen. Wo der liegt, entscheidet jedes Land für sich. Abgerechnet wird dann zum Ende der Pandemie.

Zur Person

Der deutsche Virologe und Epidemiologe Klaus Stöhr (62) leitete bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) das Globale Influenzaprogramm. Bei der Sars-Bekämpfung war er für die WHO an vorderster Front dabei. Bis 2011 arbeitete er für Novartis. Aktuell koordiniert der Forscher die fachbereichsübergreifende «Arbeitsgruppe Corona-Strategie».

Der deutsche Virologe und Epidemiologe Klaus Stöhr (62) leitete bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) das Globale Influenzaprogramm. Bei der Sars-Bekämpfung war er für die WHO an vorderster Front dabei. Bis 2011 arbeitete er für Novartis. Aktuell koordiniert der Forscher die fachbereichsübergreifende «Arbeitsgruppe Corona-Strategie».

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