Corona-Mutationen übernehmen die Regie
Führt der Schweizer Weg in die dritte Welle?

Die Schweiz steht vor Schicksalswochen. Die Mutanten drohen das Land zu überrennen. Wie gelockert wird, ist entscheidend. Doch es gibt Hoffnung.
Publiziert: 14.02.2021 um 12:03 Uhr
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Aktualisiert: 12.03.2021 um 15:01 Uhr
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Zwar sinken Fallzahlen wei­ter­hin. Was zeigt, dass der Lockdown seine Wirkung nicht verfehlt hat. Aber in der sinkenden Kurve kommt noch anderes zum Vorschein: die hoch an­ste­cken­den Mu­tan­ten holen gerade mächtig Anlauf.
Foto: keystone-sda.ch
Tobias Marti und Sven Zaugg

Der Unmut über das Lockdown-Regime wächst. Par­teien, Gewerkschaften, Wirtschaft, die gesamte Bevölkerung sind pan­de­mie­mü­de bis -wütend. Die Forderung nach klaren Per­spektiven wird lauter. Der Druck auf die Landesregierung ist gewaltig.

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Zwar sinken die Fallzahlen wei­ter. Das zeigt: Der Lockdown hat seine Wirkung nicht verfehlt. Aber neben der sinkenden Kurve kommt eine weitere zum Vorschein: Hochan­ste­cken­de Mu­tationen des Coronavirus nehmen gerade mächtig Anlauf. Vor allem B117, also jene Va­ri­an­te, die in Grossbritannien und Portugal einfiel.

Was sich da anbahnt, könnte die dritte Welle sein. Der infektiösere Virustyp wird bald auch in der Schweiz das Geschehen do­mi­nie­ren. Alle acht Tage verdoppelt er sich, haben die Experten des Bundes errechnet. «Eine Variante, die 50 Prozent ansteckender ist, kann zum Gamechanger werden», sagt Martin Ackermann (49), Präsident der wissenschaftlichen Taskforce.

Bereits im März wird B117 die Oberhand gewinnen. «Der Mutant aus Grossbritannien und andere werden uns überrennen, das Virus hat einen Raketenantrieb bekommen», warnte Melanie Brinkmann (46). Die Virologin berät Deutschlands Kanzlerin.

Blickt Gesundheitsminister Berset gen Norden, sieht er, wie An­gela Merkel gerade den Shut­down bis An­fang März ver­län­gert hat – mit weit strengeren Massnahmen als hierzulande.

Virologin mit radikalem Plan

Melanie Brinkmann, Virologin am Helmholtz-Zentrum für Infek­tionsforschung im deutschen Braunschweig, und weitere Wissenschaftler stellten diese Woche einen radikalen Plan vor, der Deutschland und später ganz Europa zur coronafreien Zone machen soll.

«No Covid», so heisst ihre Strategie, hat sich zum Ziel gesetzt, grüne Schutzzonen mit niedrigen Ansteckungsziffern zu schaffen und zu vermehren. Grün bedeutet: Die Lage ist unter Kontrolle. Für alle anderen Zonen gilt das nicht.

In die grüne Zone einzureisen, wird schwierig, weil ja verhindert werden muss, dass das Virus aus den belasteteren Zonen eingeschleppt wird: «Es wäre für alle leichter, wenn die Schweiz auch eine grüne Zone wäre», so die Professorin zu SonntagsBlick.

Der Bundesrat kann auch nach Genf blicken, wo die neue Variante bereits das Infektionsgeschehen dominiert. In Dreiviertel der Fälle ist es B117. Dort hat die Mu­tation also freie­n Lauf – und doch schnellen die Fall­zah­len nicht wie befürchtet hoch, sondern stagnieren.

«An Genf sieht man, dass der ­Mutant auf die gegenwärtigen Massnahmen reagiert», sagt Thomas Steffen, Basler Kantonsarzt. Der Schweizer Weg scheine hier zu funktionieren.

Eine Beobachtung, die Martin Ackermann teilt: «Der Shutdown und die Kontaktreduktion haben einen bremsenden Effekt auf ­einen Neuanstieg», so der Präsident der Bundestaskforce. Doch die epidemiologische Lage sei schwierig zu beurteilen, sie könne sich in beide Richtungen entwickeln.

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Mehr Glück als Verstand?

Der Virologe Andreas Cerny aus Lugano TI ist überzeugt: «Wir hatten bisher einfach Glück, indem wir schon harte Schutzmass­nahmen eingeführt hatten, als die ansteckenderen Varianten sich bei uns auszubreiten begannen.» Die Lehre, die daraus laut Cerny zu ­ziehen wäre: «Keinesfalls voreilig lockern!»

Wie ansteckend das mutierte Virus ist, zeigt ein Blick in Basler Schulen. Dort liegt sein Anteil bei rund 40 Prozent. «Es nutzt Lücken schneller, wenn es sie bekommt. Und es genügt wohl eine kleinere Menge für eine Infektion», so der Basler Kantonsarzt Steffen.

Das Virus verfüge dennoch nicht über Mechanismen, mit denen es die Schutzmassnahmen generell überwinden könne. Es verbreitet sich laut Steffen schneller, wenn etwas nicht funktioniert, etwa wenn eine Lehrperson beschliesst, das Znüni trotz allem drinnen durchzuführen.

«Wenn wir uns an die bisherigen Massnahmen halten, ist der Mutant möglicherweise kon­trollierbar, und wir können die dritte Welle verhindern», hofft der Kantonsarzt: «Vielleicht kann man dann in zwei, drei Wochen der Bevölkerung etwas Luft geben.»

Entscheidung am 24. Februar

Wie Bundesrat Alain Berset gegenüber Westschweizer Zeitungen andeutete, will er im März offenbar einen Teil der Restriktionen auf­heben. Welche das sind, sagt er nicht. Am 24. Februar solle der Bundesrat entscheiden.

Lockdown oder Öffnung: Die kommenden Wochen werden weisen, welche Richtung die Pandemie nimmt. Eine der grössten Herausforderung aus epidemiologischer Sicht ist derzeit das Aufspüren der Mutationen. Doch genau da­ran hapert es.

Taskforce-Präsident Ackermann: «In der Schweiz besteht aktuell kein einheitliches systematisches Testverfahren mit flächendeckenden Sequenzierungen, um B117 oder andere Varianten zu detektieren.»

So wird in einzelnen Kan­tonen gezielt nach dem bri­tischen Mutanten gesucht. ­Logischerweise wird dort, wo gesucht wird, auch mehr gefunden. In anderen Kantonen werden nur vereinzelte Proben zur sogenannten Sequen­zierung an überregionale Labore geschickt. Einmal mehr: Die Daten sind unvollständig, Unschärfen daher programmiert.

Das Gegenteil wäre in dieser Phase der Pandemie gefragt: «Es ist wichtig, dass wir genau beobachten können, wie sich die Ansteckungen mit B117 in den verschiedenen ­Regionen entwickeln und sie so vergleichen können», sagt Ackermann.

Die Impfung gibt das Tempo vor

Wie viel Öffnung ist also möglich, ohne dass uns die dritte Welle erwischt? Es wird da­von ab­hän­gen, wie schnell ge­impft wird. Der Bundesrat verspricht seit Anfang Jahr, dass sich bis Ende Juni al­le Er­wach­se­nen, die es wünschen, immunisieren lassen können.

Daran glauben aber mittlerweile nicht einmal mehr die Zuständigen: «Ich fürchte, bis wir dieses Ziel erreicht haben, wird es Herbst», sagte die Bündner Kantonsärztin Marina Jamnicki zu Radio SRF.

Die gute Nachricht: gegen die britische Mutation wirken alle derzeit erhältlichen Impfstoffe.

Was kommt nach den Sportferien auf das Land zu? Einmal mehr ist Ungewissheit hier die einzige Konstante der Pandemie.

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