Autobiografie von Ai Weiwei
Er zeigte China den Stinkefinger

Ai Weiwei (64) ist der bekannteste Künstler Chinas – nicht zuletzt wegen eines Schweizers und weil ihn der Staat wochenlang verschwinden liess. Nun legt er seine Autobiografie vor und lässt dabei tief blicken.
Publiziert: 07.11.2021 um 22:01 Uhr
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Ai Weiwei und Wang Fen mit ihrem gemeinsamen Sohn Lao, der 2008 auf die Welt kam.
Daniel Arnet

Die Frage ist oberflächlich: «Wo wohnst du?» Die Antwort tiefgründig: «Ich wohne tief in den uralten Bergen / ich wohne im uralten Felsgestein.» Ein eigenartiger Wohnort! Wenn man allerdings weiss, dass dies die Anfangszeilen vom Gedicht «Gespräch mit der Kohle» des chinesischen Malers und Dichters Ai Qing (1910–1996) sind, dann kommt einiges ans Tageslicht und wird offensichtlich.

«Gespräch mit der Kohle», das jetzt im Lyrikbändchen «Schnee fällt auf Chinas Erde» neu auf Deutsch erscheint, schreibt Ai 1937. 20 Jahre später kommt sein Sohn Ai Weiwei auf die Welt. Der ist knapp elf Jahre alt, als dieses Gedicht für Vater und Sohn sozusagen bittere Realität wird: Verbannt von Chinas Führer Mao Zedong (1893–1976) fristen sie über Jahre wie Kohle das Leben in einer Erdhöhle.

«Der Fussboden war aus gestampfter Erde, und die Wände waren Lehmziegel, aus denen Strohhalme herausragten», schreibt Ai Weiwei (64), heute weltweit wohl der bekannteste Künstler Chinas, in seiner eben veröffentlichten Autobiografie «1000 Jahre Freud und Leid». Weil er Kritik am kommunistischen Regime übt, erhält Ai Qing – der berühmteste Dichter der chinesischen Moderne – bis 1978 Publikationsverbot und muss Latrinen putzen.

Poesie ist der Tod jeder banalen Politik

«Wir sind vom Schicksal dazu bestimmt, gegen die Tyrannei zu kämpfen und endlos darüber nachzudenken und zu diskutieren, was Freiheit bedeutet», schreibt Ai Weiwei im Vorwort zum Gedichtband seines Vaters. Und zu dessen Einfluss ist dort zu lesen: «Er hat mir den Mut verliehen, den man braucht, wenn Ästhetik und Moral nicht mehr zählen.» Die Poesie sei der Tod jeder banalen Politik.

Ai legt sich den Künstlernamen Weiwei zu, was übersetzt «doppelte Verneinung» heisst. 1981 reist er für ein Studium in die USA und beschäftigt sich in New York mit Performance, Konzeptkunst, Dadaismus und Pop Art. Dort lernt er Ende Dezember 1984 den Beat-Generation-Poeten Allen Ginsberg (1926–1997) bei einer Dichterversammlung kennen. «Ginsberg war ein schwelendes Kohlenfeuer, das mit seiner Wärme an diesem Winterabend die Menschen anlockte», erinnert sich Ai.

Ginsberg erzählt von seiner kürzlich unternommenen China-Reise und berichtet von unterdrückten Regimekritikern. Nachdem die Lesung zu Ende ist, geht Ai zu Ginsberg und sagt ihm, er sei der Sohn des revolutionären Dichters, von dem er eben gesprochen habe. «Er machte grosse Augen, als er mir zuhörte», schreibt Ai. «Mich genau musternd, sagte er, seine schönste Erinnerung an China sei die Umarmung gewesen, die mein Vater ihm geschenkt habe.»

Begegnungen mit Uli Sigg und Herzog & de Meuron

Ai reist 1993 nach Peking zurück, weil sein Vater erkrankt. Ein Jahr vor dessen Tod lernt Ai Weiwei 1995 Uli Sigg (75) kennen, den damaligen Schweizer Botschafter in China. «Diese zufällige Begegnung sollte mein Leben verändern», schreibt Ai. «Dank ihm kam internationales Kapital in dieses Ödland.» Der Künstler geniesst die Gespräche mit dem Schweizer Kunstsammler, die «häufig unangestrengt in unbekanntes Terrain» laufen.

Sigg ist es auch, der den Kontakt zwischen Ai und den Schweizer Architekten Jacques Herzog (71) und Pierre de Meuron (71) herstellt, als diese um 2003 auf chinesischer Seite einen Mitarbeiter für den Bau den Olympiastadions «Bird's Nest» in Peking suchen. «Ich wusste wenig über die Architekten», schreibt Ai, «sagte aber sofort zu, fest davon überzeugt, dass nichts unmöglich war.»

Ai rückt mehr und mehr ins internationale Rampenlicht, entwickelt sich zu einem Künstler von Weltruf. Das macht ihn in den Augen der chinesischen Regierung suspekt. «Woher hatte ich mein Geld? Kaufen ‹antichinesische Kräfte› meine Werke, um meine Aktivitäten zu finanzieren und mein Programm zu unterstützen?», schreibt Ai im Kapitel «Einundachtzig Tage», worin er ausführlich und eindrücklich von seiner Verhaftung 2011 und dem fast dreimonatigen Verschwinden berichtet.

«Ich fühlte mich wie ein Bergmann»

«Ich war vom Staat entführt worden, der seine eigenen Gesetze mit Füssen trat, indem er mich von meinem Zuhause wegzerrte und mich völlig isoliert unterbrachte», so Ai. «Ich fühlte mich wie ein Bergmann, der bei einem Einsturz in der Grube eingeschlossen wurde, während die Menschen oben nicht wissen, ob unter dem Schutt noch jemand am Leben ist, und der Mann unten keine Ahnung hat, ob eine Rettungsaktion gestartet oder bereits abgebrochen wurde.»

Eine beispiellose Solidaritätswelle schwappt über die Welt: «Free Ai Weiwei» verkünden 2011 Aufrufe im Internet, auf Museen und von Künstlern. Niemand weiss, wo Ai ist und was ihm der chinesische Staat vorwirft. In «1000 Jahre Freud und Leid» berichtet Ai erstmals detailliert über die 81 Tage, in denen ihn die Staatssicherheit wegen angeblichen Steuervergehen verhört.

«Erklären Sie mir doch, was das bedeutet», sagt ein Ermittler und deutet auf das Foto mit Ai Weiweis Stinkefinger Richtung Tiananmen, der Platz am Tor des Himmlischen Friedens, wo das Regime Anfang Juni 1989 Panzer auffahren lässt und Tausende Aufständische ermordet – ein Massaker, das China totschweigt. «Dieses Kunstwerk trägt den Titel ‹Study of Perspective›», antwortet Ai dem Verhörenden.

Trotz allem optimistisch und feurig

«Was für ein Unsinn!», antwortet der. «Das soll Kunst sein? Das ist ein unverhohlener Angriff auf den Staat.» Und weiter: «Was bedeutet der Mittelfinger?» «In Amerika bedeutet das ‹fuck›.» «Und was ist mit dem Tiananmen?» «Das ist ein Stadttor.» Ai zeigt sich in diesem Dialog als gewitzter und furchtloser Verfechter der Menschenrechte. Und stolz schreibt er: «Als Staatsfeind war ich nun meinem Vater gleichgestellt.»

In einem Kapitel der Autobiografie widmet sich Ai Weiwei dem eben auf Deutsch erschienenen Gedichtband seines Vaters: «‹Schnee fällt auf Chinas Erde› war durchdrungen von einer Liebe zum Leben und Liebe des Landes», schreibt er dort. «Mein Vater schrieb es, als er jung und optimistisch war und noch voller Zuversicht in Chinas Zukunft blickte.»

Und so endet auch das eingangs zitierte Gedicht von Ai Qing optimistisch: «Dann bist du also schon längst vor Groll gestorben?», heisst es am Schluss von «Gespräch mit der Kohle». «Gestorben? Aber nein, nein, ich lebe noch – / du musst mir nur Feuer geben. Entzünde mich!» Dieses unbändige Feuer der Kreativität lodert heute in seinem Sohn Ai Weiwei weiter.

Ai Weiwei, «1000 Jahre Freud und Leid: Erinnerungen», Penguin

Ai Qing, «Schnee fällt auf Chinas Erde», Penguin

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