Erst hat sein Flug nach Zürich Verspätung. Dann taucht sein Gepäck nicht auf. Und schliesslich kommt ein Termin mit zwei Politikerinnen dazwischen. Das Warten auf Ai Weiwei (62) zieht sich in die Länge. Und die Zeit drängt. Denn am Abend wird der bekannteste chinesische Dissident und Künstler an der Universität Zürich den Frank-Schirrmacher-Preis erhalten. Verliehen im Rahmen einer Veranstaltung des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung (SIAF).
Als Ai Weiwei endlich in T-Shirt, schlabbrigen Jeans und abgelatschten Turnschuhen in den vergoldeten Gängen des Savoy auftaucht, ist er die Ruhe in Person. «Ist das ein Chagall da an der Wand?» Nicht schlecht: Kein Chagall zwar, aber vom französischen Maler inspiriert.
SonntagsBlick: Sie sind kürzlich aus Berlin weggezogen und sagten, Deutschland sei keine offene Gesellschaft mehr. Wo leben Sie jetzt?
Ai Weiwei: Deutschland ist generell sehr offen, aber das Land hat einige blinde Flecken und vermeidet die Konfrontation. Jetzt lebe ich in Hotels. Ich reise viel.
Brauchen Sie nicht ein Zuhause?
Ich hatte nie eines. Als ich auf die Welt kam, wurde mein Vater exiliert und wir aus unserem Haus vertrieben. Ich war nie sicher, immer auf der Hut, immer an einem Ort, zu dem ich keine Beziehung hatte. Ein Fremder.
Reisen Sie noch nach China, um Ihre Mutter zu sehen?
Wenn ich mir die Entwicklung in China anschaue und wenn ich auf meine Mutter höre, dann sollte ich nicht zurückkehren. Leider. Ich spüre keine unmittelbare Gefahr, aber ich analysiere die Situation und höre auf Menschen, die mir wichtig sind. Meine Mutter will auf keinen Fall, dass ich zurückkehre.
Sie hören noch immer auf Ihre Mutter?
Natürlich. Sie sehnt sich am meisten nach mir. Doch sie hat auch Angst um mich. Deshalb höre ich auf sie, denn ich will ihr nicht wehtun. Nicht nochmals. Ich verschwand damals vor ihren Augen.
2011 wurden Sie inhaftiert. Was hat die Erfahrung im Gefängnis mit Ihnen gemacht?
Es war hart, aber anderen ging es weit schlechter. Mein Vater war 20 Jahre lang exiliert. Und viele Menschen sterben im Gefängnis und haben nie die Möglichkeit gehabt, ihre Stimme zu erheben. Ich hatte mich immer damit auseinandergesetzt, was es heissen kann, eingesperrt zu sein. Und doch war es sehr hart, als es so weit war. Es hat meine Sicht auf die Gesellschaft verändert: Warum tut man das einem Menschen an, bloss weil er eine andere Meinung hat?
Ai Weiwei kommt 1957 in Peking zur Welt, wächst aber in der Mandschurei und in Xinjiang im Exil auf. Nach dem Studium an der Filmakademie in Peking verbringt er einige Jahre in den USA. Für Aufsehen sorgt der Künstler und Regimekritiker 2011, als er von der chinesischen Regierung erst knapp drei Monate inhaftiert wird und danach einige Jahre nicht aus China ausreisen darf. 2015 erlangt er seinen Pass zurück und wandert nach Berlin aus, wo er bis September 2019 lebt. Heute wohnt er hauptsächlich in Cambridge (Grossbritannien).
Ai Weiwei kommt 1957 in Peking zur Welt, wächst aber in der Mandschurei und in Xinjiang im Exil auf. Nach dem Studium an der Filmakademie in Peking verbringt er einige Jahre in den USA. Für Aufsehen sorgt der Künstler und Regimekritiker 2011, als er von der chinesischen Regierung erst knapp drei Monate inhaftiert wird und danach einige Jahre nicht aus China ausreisen darf. 2015 erlangt er seinen Pass zurück und wandert nach Berlin aus, wo er bis September 2019 lebt. Heute wohnt er hauptsächlich in Cambridge (Grossbritannien).
Die Repression in China nimmt zu. Wie ist die Situation heute, nach sechs Jahren unter Präsident Xi Jinping?
China hat viel erreicht, ist ein wirtschaftlicher Gigant geworden. Gleichzeitig hat das heutige China keinen legitimen Status. Die Bevölkerung konnte nie wählen – nicht ein einziges Mal in 70 Jahren! Es gibt weder eine unabhängige Justiz noch Pressefreiheit. Da ist China sehr rückständig. Gleichzeitig gibt es eine topmoderne Überwachung, und das in einem Staat mit 1,4 Milliarden Einwohnern. Ich halte das für sehr gefährlich.
Wenn Sie Staatspräsident wären: Wie würden Sie China regieren?
Ich würde den Menschen vertrauen! Ich würde sagen: Es geht um Wettbewerb, aber es geht auch um Respekt und um menschliche Werte. Man kann nicht einfach verbieten, dass über gewisse Dinge gesprochen wird. Das ist keine moderne Einstellung.
Sie würden das Land öffnen?
China sollte vollständig geöffnet werden, ja. Man sollte über alles diskutieren dürfen. Chinas heutige Gesellschaft ist strukturell nicht gesund.
Oft hört man, China würde bei einer Öffnung zusammenbrechen. Warum glauben Sie, dass Demokratie in China funktionieren würde?
Schauen Sie, es gibt zwei Wege, mit einer Flut umzugehen: Entweder man baut den Damm immer höher und höher, um immer mehr Wasser zurückzuhalten. Der Druck wird dann grösser und grösser. Oder man kann Wasser ganz natürlich abfliessen lassen. Das wäre der demokratische Weg. Aber China versucht, den Damm immer höher zu bauen. Das ist gefährlich für uns Menschen.
Wann wird der Damm brechen?
Eine Staatsmacht kann sich 100 Jahre lang halten, sie kann aber auch über Nacht zusammenbrechen. Niemand kann das vorhersagen. Sicher ist: Das Land wird kollabieren. Irgendwann. Das System läuft gegen die Natur des Menschen.
China führt derzeit ein Social-Credit-System aus: Alle werden jederzeit überwacht, bei gutem Verhalten gibt es Plus-, bei schlechtem Verhalten Minus-Punkte. Wie verändert das die Gesellschaft?
In einem solchen System verhält man sich automatisch anders, unnatürlich. Die Menschen werden streng erzogen. Und der Staat wird überwältigend stark. Das führt dazu, dass die Menschen kein Vertrauen mehr zueinander haben.
Manche Chinesen finden das System gut. Sie sagen: So weiss ich, wer sich korrekt benimmt und wem ich vertrauen kann.
Wer sagt, was korrekt ist und was nicht? Ich als Künstler sage offen meine Meinung. Das ist für den Staat nicht in Ordnung. Deshalb kann ich jederzeit beseitigt werden. Und wenn ich verschwunden bin, dann sorgen sich andere Künstler, dass auch sie verschwinden könnten, wenn sie ihre Meinung äussern.
Menschen, die sich richtig verhalten, haben also nichts zu befürchten.
Das System erzieht Menschen wie Tiere! Wenn sie sich richtig verhalten, werden sie belohnt. Das ist schrecklich.
Das Internet war einst der Ort, wo Chinesen Kritik üben konnten. Heute ist das Web ein Instrument für die Regierung, um die Bevölkerung in nie da gewesenem Ausmass zu überwachen.
Die Regierung hat immer noch Probleme mit dem Internet. Schauen Sie nur, was in Hongkong passiert. Eine Bewegung ohne Anführer. Eine Million Menschen, die sich nur über das Internet organisieren! Sie teilen die gleiche Ideologie und sind sehr mächtig. Die Regierung kann das höchstens mit harten Polizeieinsätzen stoppen. Die Verbreitung von Informationen über das Internet hilft auf dem Weg zu einer demokratischen Gesellschaft.
Wird die Bewegung in Hongkong wirklich etwas verändern?
Ja, sie verändert gerade das Bild des Kommunismus einer ganzen Generation. Die Bewegung hat eine klare Vorstellung und wird nicht aufgeben, sie ist bestimmt und einflussreich. Dazu hat sie Einfluss auf die ganze Welt. Sehen Sie, was in Katalonien passiert oder in Chile: Sie alle lernen von Hongkong!
Und in China?
In China darf man Hongkong nicht mal erwähnen. Menschen werden verhaftet, wenn sie über Hongkong sprechen.
Warum riskieren gewisse Menschen ihr Leben für eine gute Sache und andere nicht?
Die meisten Menschen leben in praktischen Bahnen, solange die Strassen gut sind, Strom aus der Steckdose kommt und das Benzin bezahlbar ist. So erziehen moderne Gesellschaften die Individuen: Alles muss bequem sein und abgesichert werden. Auch die Schweiz ist ein Versicherungsland: Zwischen Himmel und Hölle liegt die Versicherungsgesellschaft!
Solange in China die Wirtschaft floriert und es den Menschen immer besser geht, wird sich nichts ändern?
Das ist die menschliche Natur, ja.
Wie soll der Westen mit China umgehen?
Da zeigt sich die Schwäche des Westens: Menschen haben über Generationen versucht, Freiheit und Demokratie zu erreichen. Das darf der Westen nicht verlieren. Sonst wird er zusammenbrechen.
Alle wollen eben mit China Geschäfte machen.
Ich weiss (lacht). Geschäfte sind profitabel, auch für China. Dort herrscht Staatskapitalismus: Entschieden wird viel schneller und unkomplizierter. Und Sie sehen ja, wie schwierig es ist, Entscheidungen in demokratischen Gesellschaften zu treffen.
Deshalb bewundern viele China: weil alles so schnell umgesetzt werden kann.
Genau. Die Kosten der Demokratie sind hoch. China hingegen kann einfach entscheiden. Das Land braucht höchstens mehr Geheimpolizei und mehr Überwachung. So können sie einfach Leute verhaften, die im Wege stehen.
Glauben Sie noch an das Gute im Menschen?
(Zögert) Wir alle haben eine böse Seite in uns. Menschsein ist ein Kampf ums Überleben. Deshalb gibt es keine heilige Seite der Menschheit. Wir sind alle eigennützig, haben ein kurzes Leben und sind praktisch veranlagt. Immerhin: Der Mensch kann sich gedanklich sehr viel mehr vorstellen. Nur verhält er sich nicht entsprechend. Er löst die Probleme nicht, auch wenn er wüsste, wie. Aber der Mensch ist wie eine Ruine: Er bleibt tatenlos und verfällt.