Der Aarauer Bahnhofplatz ist praktisch leer, als Jean-Pierre Gallati (54) und Andreas Glarner (58) um 9 Uhr aufeinandertreffen. Die beiden kennen sich seit Jahren, sind Weggefährten. Doch Corona treibt sie auseinander. Covid-Zertifikat, Impfung, Spitalbetten – einig sind sich der Aargauer Gesundheitsdirektor und der kantonale SVP-Präsident nie, wie sich im Streitgespräch zeigt.
Vorgeschlagen hatte dieses Gallati – weil er sich nicht zu jedem Corona-Angriff seines Parteikollegen in der Zeitung äussern wolle.
Herr Glarner, Sie haben Herrn Gallati als «Höseler»bezeichnet. Weshalb fallen Sie Ihrem eigenen Regierungsrat derart in den Rücken?
Andreas Glarner: Ich habe mit «Höseler» den Gesamtregierungsrat gemeint, sicher nicht meinen Freund Gallati. Wir haben einfach eine unterschiedliche Auffassung, was die Corona-Politik angeht.
Zwischen SVP-Regierungsräten und der Partei gibt es beim Covid-Gesetz einen Graben. Die SVP hat am Wochenende die Nein-Parole zum Gesetz – und damit auch zum Zertifikat – beschlossen. Sind Sie enttäuscht, Herr Gallati?
Jean-Pierre Gallati: Ich stelle einfach fest, dass die SVP unter der Bundeshauskuppel – im Ständerat und im Nationalrat – dem Gesetz und dem Zertifikat damals noch zugestimmt hat.
Sind Sie enttäuscht?
Gallati: Nein, ich bin einfach anderer Meinung. Und ich versuche, die Menschen mit Argumenten zu überzeugen. Den Aargauer Wirten würde ich sagen, es ist keine Hexerei, das Zertifikat anzuwenden. Und es hilft uns, Schliessungen zu verhindern.
Herr Glarner, Sie haben sich bei der Abstimmung im Parlament enthalten. Nun bekämpfen Sie das Zertifikat. Weshalb der Sinneswandel?
Glarner: Damals wussten wir noch nicht, wo das Zertifikat überall eingesetzt würde. Ich sehe nicht ein, weshalb wir in den Restaurants das gesellschaftliche Leben wieder herunterfahren sollten.
Jean-Pierre Gallati (54) wurde Ende 2019 in den Aargauer Regierungsrat gewählt – als Nachfolger der glücklosen SVP-Gesundheitsdirektorin Franziska Roth (57). Seitdem hat sich der Anwalt vom typischen SVP-Scharfmacher zum Exekutivpolitiker entwickelt, der sich auch mal gegen die eigene Partei stellt. Gallati ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter. Er lebt in Wohlen AG.
Jean-Pierre Gallati (54) wurde Ende 2019 in den Aargauer Regierungsrat gewählt – als Nachfolger der glücklosen SVP-Gesundheitsdirektorin Franziska Roth (57). Seitdem hat sich der Anwalt vom typischen SVP-Scharfmacher zum Exekutivpolitiker entwickelt, der sich auch mal gegen die eigene Partei stellt. Gallati ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter. Er lebt in Wohlen AG.
Was schlagen Sie denn vor?
Glarner: Wir sollten die Regeln bei den Beizen so lassen, wie sie sind. Aber sicher keine Grossveranstaltungen ...
Gallati: ... ich staune, dass du keine Grossveranstaltungen mehr willst.
Glarner: Moment. Wenn ein Veranstalter sagt, bei uns kommen nur Geimpfte, Genesene und Getestete rein, habe ich keine Mühe damit. Das muss jeder Veranstalter selber wissen.
Gallati: Aber genau das geht ohne Zertifikat nicht mehr!
Herr Glarner, Sie wehren sich – trotz zunehmenden Spitaleinweisungen – gegen neue Corona-Massnahmen. Nehmen Sie in Kauf, dass die Spitäler an den Anschlag kommen?
Glarner: Das Problem liegt bei den Spitalkapazitäten. Wir brauchen mehr Plätze! Vor gut einem Jahr hat Herr Gallati uns gesagt, wir hätten etwas mehr als 100 Intensivplätze. Wie viele Plätze verkaufst du uns heute?
Gallati: Wir haben im Aargau normalerweise 50 Intensivpflegeplätze. Wir haben letztes Jahr während der ersten Welle möglichst viele Beatmungsgeräte gekauft. So, dass wir am Schluss 96 Beatmungsplätze hatten. Im Verlauf der Pandemie haben wir allerdings gemerkt, dass ein Covid-19-Patient auf der Intensivpflegestation drei- bis fünfmal mehr Personal braucht. Unter anderem, weil das Personal teilweise krankheitsbedingt ausfiel, konnten wir die Plätze daher von 50 nur auf 60 aufstocken.
Glarner: Aber wie viele Leute habt ihr zusätzlich rekrutiert – im Ausland zum Beispiel? Man muss jetzt Personal rekrutieren. Und ausserdem muss man schauen, dass es nicht sechs Leute braucht, um einen Patienten zu kehren. Das ist ja eine Lachnummer!
Herr Gallati, ist es so schwierig, geeignetes Personal zu finden?
Gallati: Wir haben immer wieder besprochen, wie wir die Kapazität im Gesundheitswesen erhöhen können. Es geht schlicht nicht. Erstens handelt es sich um eine sehr spezialisierte Tätigkeit. Zweitens kann ich die Fachkräfte nicht – wie Herr Glarner immer wieder vorschlägt – in Polen rekrutieren. Es überrascht mich sowieso, dass Herr Glarner das vorschlägt.
Glarner: Man könnte Personal in Deutschland rekrutieren, ich habe nichts von Polen gesagt. Wenn ich ein Inserat schalte in der «Frankfurter Allgemeine Zeitung» und sage, ich brauche so und so viele Pflegekräfte für dieses Gehalt, dann läuft euch die Mailbox über.
Seit 2015 politisiert Andreas Glarner (58) im Nationalrat – und das pointiert rechts. Sein Thema ist vor allem die Migrationspolitik. Aber auch im Gesundheitswesen kann der Mann aus Oberwil-Lieli AG mitreden – handelte er doch lange mit Medizinaltechnik. Glarner, der zum rechten Flügel der SVP gehört, ist seit 2020 auch Präsident der Kantonalpartei. Er ist Vater zweier Töchter.
Seit 2015 politisiert Andreas Glarner (58) im Nationalrat – und das pointiert rechts. Sein Thema ist vor allem die Migrationspolitik. Aber auch im Gesundheitswesen kann der Mann aus Oberwil-Lieli AG mitreden – handelte er doch lange mit Medizinaltechnik. Glarner, der zum rechten Flügel der SVP gehört, ist seit 2020 auch Präsident der Kantonalpartei. Er ist Vater zweier Töchter.
Herr Gallati, haben Sie versucht, Pflegende im Ausland zu rekrutieren?
Glarner: Nein, natürlich nicht.
Gallati: Wir haben bereits heute sehr viele, die aus Deutschland in die Schweiz kommen, um hier zu arbeiten. Zum Glück. Aber es ist nicht so, dass jeder in die Schweiz springt, nur wenn man ein Inserat schaltet – erst recht nicht, wenn es um spezialisierte Intensivpflegeplätze geht.
Der Aargau will die Impfquote markant erhöhen und impft neuerdings auch an Schulen. Wie läuft das?
Gallati: Das Impfen an der Schule ist für die Schüler völlig freiwillig. Bei den Schülern unter 16 Jahren müssen die Eltern zustimmen.
Glarner: Eine tolle Freiheit ist das, wenn die Lehrerin in der Schule fragt, wer alles geimpft ist! Es entsteht ein unglaublicher Druck auf die Kinder.
Gallati: Herr Glarner und ich gingen in den 1970er Jahren zur Schule. Wir hatten damals zig Impfungen, und niemand hat von Zwang gesprochen. Die Covid-Impfung hat eine extrem positive Wirkung: 99-Prozent der Patienten auf den Intensivstationen sind nicht geimpft.
Herr Glarner, was haben Sie gegen die Impfung?
Glarner: Ich möchte nicht derjenige sein, der dem Volk sagt, lasst euch impfen. Ich kenne weder die Nebenwirkungen, noch weiss ich, was in zwei Jahren ist. Im Moment laufen ja noch Menschenversuche mit dieser Sauce, die wir uns da reinjagen.
Sind Sie denn geimpft?
Glarner: Ja, ich bin geimpft.
Gallati: Ich verstehe Herrn Glarner wirklich nicht! Er spricht von einer Sauce und ist selber geimpft. Wenn die Impfung so riskant wäre, hätte er sich nicht impfen lassen!
Glarner: Mir geht es darum, dass die Impfung freiwillig bleibt. Ich habe mich wegen der Auslandreisen impfen lassen. Es ist mir einfach zu blöd, mir ständig ein Stäbchen in die Nase führen zu lassen. Aber ich verstehe jedes Land, das sagt, bei uns kommen nur Geimpfte rein ...
Gallati: ... offenbar hat Herr Glarner keine Mühe, wenn andere Staaten einen Impfzwang einführen.
Glarner: Jedes Land ist frei, welche Regeln es für die Einreisenden erlässt. Das ist kein Impfzwang. Man ist nicht gezwungen, nach Taiwan zu reisen.
Herr Gallati, Sie lancieren in diesen Tagen eine Impfkampagne mit Aargauer Prominenten. Was schwebt Ihnen vor?
Gallati: Wir klären auf und zeigen Vorbilder. Menschen, die sich haben impfen lassen. Wie Herrn Glarner, er ist ein positives Impf-Vorbild!
Glarner: Ich will um Gottes Willen kein Vorbild sein!
Herr Glarner, wenn man Ihnen zuhört, stellt man sich die Frage, ob Sie sich einen anderen SVP-Regierungsrat wünschen?
Glarner: Nein, auf keinen Fall! Er ist der Beste, den wir haben können.
Aber?
Glarner: Schauen Sie, wir haben unterschiedliche Rollen. Er wählt einen anderen Weg, als ich wählen würde.
Gallati: Die Frage ist, ob man das Virus als Bedrohung für das Gesundheitssystem sieht oder nicht. Wenn man wie Herr Glarner sagt, es sei kein Problem, es sterbe fast niemand, es gäbe wahrscheinlich kein Long Covid ...
Glarner: Entschuldigung, ich habe nie gesagt, es gäbe kein Long Covid. Ich bin selber betroffen von einer nachhaltigen Müdigkeit, seit ich Corona hatte.
Was wünschen Sie sich voneinander in Bezug auf die Corona-Politik?
Gallati: Mach die Augen auf und schau, was da draussen passiert.
Glarner: Baut endlich die Spitalkapazitäten aus. Koste es, was es wolle.