Der Schweiz steht ein heisser Abstimmungsherbst bevor: Voraussichtlich im September kommt die AHV-Reform an die Urne. Die Frage, die die Stimmbevölkerung entscheiden muss: Sollen Frauen künftig bis 65 arbeiten?
Nötig sei das, glaubt man dem Bund, weil die AHV künftig immer mehr Renten auszahlen muss – die Babyboomer-Generation geht in Pension. Gibt man kein Gegensteuer, klaffe 2030 ein Finanzierungsloch von 3,7 Milliarden im wichtigsten Sozialwerk der Schweiz. Die AHV-Reform mit der Erhöhung des Frauenrentenalters soll die Bilanz um 2 Milliarden verbessern.
«Bewusste Irreführung oder Inkompetenz?»
Doch nun kommen Zweifel an diesen Zahlen auf: Daniel Lampart (54), Chefökonom des Gewerkschaftsbundes, wirft dem Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) unter der Leitung von Ex-SP-Nationalrat Stéphane Rossini (58) und auch dem zuständigen SP-Bundesrat Alain Berset (50) vor, die AHV ärmer zu rechnen als sie in Wirklichkeit sei.
Konkret: In seinen AHV-Szenarien gehe das BSV von einer Lohnentwicklung – und damit von einer Entwicklung der AHV-Einnahmen – aus, die rund ein Drittel tiefer liegt als jene des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco).
Rechnet das Seco mit einem durchschnittlichen Lohnwachstum von 1,5 bis 1,7 Prozent, geht das BSV von 1 bis 1,4 Prozent aus. «In der Realität dürften die Einnahmen jährlich bis zu 2,5 Milliarden Franken höher sein, als das BSV prognostiziert», so Lampart gegenüber der «Sonntagszeitung». Und greift das Berset-Amt frontal an: «Ob das bewusste Irreführung oder Inkompetenz ist, sei dahin gestellt.»
Amt gibt zu tiefe Prognose zu
Nicht nur Lampart behauptet, dass die AHV-Rechnung in den kommenden Jahren viel besser ausfallen dürfte als angenommen. Auch das Amt selbst schreibt gegenüber der Sonntagszeitung, dass die Prognosen eigentlich besser ausfallen müssten. Aktuellere Berechnungen würden «in der Tat in den kommenden vier Jahren zu einem stärkeren Wachstum der Lohnbeiträge führen».
Für Lampart ist damit klar: «Die Reform ist zum heutigen Zeitpunkt nicht notwendig.» Damit haben die Gewerkschaften ein weiteres Argument gegen die Reform, das sie im Abstimmungskampf genüsslich ausschlachten werden.
Schon früher lag der Bundesrat daneben
Und die Geschichte gibt ihnen recht: Die bundesrätlichen AHV-Prognosen waren meist düsterer als die Realität: So warnte der Bundesrat im Jahr 2000 vor riesigen Milliarden-Defiziten. Für 2009 und 2010 würden ohne 11. AHV-Revision je rund 4 Milliarden Franken fehlen. Die Revision ging in der Volksabstimmung bachab. Trotzdem schrieb die AHV in den betreffenden Jahren satte Milliarden-Gewinne. Nur 2008 lag nahe an der Negativ-Prognose, damals sorgte die Finanzkrise für einen Absturz bei den Anlageresultaten.
2005 wiederum prognostizierte der Bundesrat ein 4,3-Milliarden-Minus für 2015. Zwar drehte das Betriebsergebnis letztes Jahr tatsächlich ins Minus – doch mit einem Fehlbetrag von 558 Millionen Franken ist es immer noch weit entfernt von den einstigen Annahmen.
Ein Grund jedesmal: Der Bundesrat hatte die Lohnentwicklung unterschätzt. Damals ärgerte sich der damalige Gewerkschaftsboss Paul Rechsteiner (69) im Blick: «Seit Mitte der 1990er-Jahre reden die Bürgerlichen – angeführt von Blocher und Konsorten – die AHV schlecht, um den AHV-Abbau voranzutreiben.»
Jetzt müsste sich Rechsteiner über die eigenen Parteikollegen Berset und Rossini ärgern. (sf)