Es ist passiert, was niemand für möglich hielt: ein Krieg mitten in Europa. Auch die Menschen in der Schweiz machen sich Sorgen – um die Menschen in der Ukraine, aber auch um die Sicherheit im eigenen Land. Armeechef Thomas Süssli (55) stellt sich den Fragen von Christian Dorer, dem Chefredaktor der Blick-Gruppe, aber auch jenen von Blick-Leserinnen und -Lesern.
Herr Süssli, wie haben Sie von der Invasion in die Ukraine erfahren?
Thomas Süssli: Ich bin an diesem Tag um vier Uhr nachts aufgewacht, was mir sonst nie passiert. So habe ich gerade noch die Rede von Präsident Putin live miterlebt.
Der Schweizer Armeechef wird also nicht aus dem Bett geholt, wenn so etwas passiert?
Nein, es war wirklich Zufall.
Was ging Ihnen durch den Kopf?
Es war wie bei 9/11, dem Angriff auf die Twin Towers in New York. Eine historische Zäsur in unserer Geschichte. Ein Krieg in Europa, den wir nicht für möglich hielten – auch ich nicht.
Wie beurteilen Sie den Konflikt aus militärischer Sicht?
Ich denke, Russland geht es darum, die ukrainische Armee und die militärische Infrastruktur zu zerschlagen und dann eine andere Regierung einzusetzen. Was mich überrascht, ist der Wehrwille der ukrainischen Armee – und auch das mangelnde taktische Verhalten der russischen Streitkräfte. Vor allem bei den Russen funktioniert das Zusammenspiel zwischen Luftwaffe und Bodentruppen nicht. Das hat zu erheblichen Verlusten geführt.
Mit welchen weiteren Szenarien rechnen Sie?
Es ist nicht der Moment für Spekulationen. Derzeit ist der Konflikt auf Russland und die Ukraine begrenzt. Die derzeitige Belagerung der Städte kann sehr, sehr lange andauern.
User Flavio: Was, wenn die Nato plötzlich in den Krieg hineingezogen wird? Wie würde die Schweizer Armee darauf reagieren?
Die Schweiz ist weder Nato-Mitglied, noch ist sie unmittelbar betroffen oder bedroht. Wir müssen die nächsten Wochen abwarten, wie sich die Situation weiterentwickelt.
User Roland Häring: Was würde in der Schweiz im Kriegsfall mit bereits ausgemusterten Soldaten passieren, die noch fit sind? Bekämen sie Waffen?
Das ist nicht vorgesehen. Wir haben Ausrüstung für 140’000 Armeeangehörige inklusive der Reserve, nicht für mehr.
Viele Menschen machen sich derzeit Sorgen, auch in der Schweiz. Man hört von Leuten, die ihre Luftschutzbunker vorbereiten. Ist das berechtigt oder doch übertrieben?
Es braucht eine gewisse Gelassenheit. Derzeit sollte man nichts überstürzen, dazu gibt es keinen Anlass. Aber es schadet sicher nicht zu überlegen, wie gut man vorbereitet ist. Wer einen Notvorrat hält, ist gut beraten. Empfohlen wird, für fünf Tage Essen und Trinken bereitzuhaben.
Korpskommandant André Blattmann empfahl noch, man solle neun Liter Wasser pro Person bereithalten – und wurde dafür vom ganzen Land ausgelacht.
Heute lacht niemand mehr. Er hatte recht. Gerade das Szenario eines Stromausfalls kann eintreten. Da ist man sicher gut beraten, wenn man Reserven hat. Wir haben selber genügend Lebensmittel und Getränke bereit, aber auch einen Camping-Kocher und Feuerholz fürs Cheminée.
Bis vor gut 20 Jahren war klar, dass die Schweiz schnell mobilisieren kann. Hat man sich zu sehr auf den ewigen Frieden verlassen, als man diese Fähigkeit abgebaut hat?
Tatsächlich haben wohl viele geglaubt, dass es nie mehr zu einem Krieg in Europa kommen wird. Jetzt sind wir aufgewacht.
Auch das Tabu Atomkrieg ist gebrochen, seit Putin mit Atomwaffen gedroht hat. Ist das wirklich ein Szenario, das man im Auge haben muss?
Das wäre das schlimmstmögliche Szenario, eine wahre Katastrophe. Bis jetzt aber gibt es noch keine konkreten Anzeichen. Wir gehen bisher von einem politischen Signal von Wladimir Putin auf die Sanktionen aus.
Wie gut ist die Schweizer Armee für den schlimmsten Fall gerüstet?
Noch haben wir alle Fähigkeiten in der Breite, aber vielleicht nicht mehr genügend in den Tiefen. Das hat damit zu tun, dass die Mittel der Armee im Vergleich zu anderen Ländern mit 0,7 Prozent des Bruttoinlandprodukts eher tief sind. Man musste in der Vergangenheit halt Prioritäten setzen. Jetzt sind wir wieder daran, die Fähigkeiten aufzubauen.
User Reto Wehrt: Sind genügend Schutzräume vorhanden?
Wir haben in der Schweiz 360'000 Schutzeinrichtungen und neun Millionen Plätze – also mehr Plätze als Einwohner. Heute sind in diesen Schutzräumen Vereinslokale oder Übungsräume für Musikgruppen. Man muss sich fragen, ob man diese Räume wieder so einrichten kann, dass sie im Notfall funktionieren.
User Stephan Leuthard: Wie viele Tage, Wochen oder Monate könnte die Armee die Schweizer Infrastruktur schützen?
Die Frage ist: Was schützen? Wir hätten nicht genügend Mittel, um alle kritischen Objekte über lange Zeit zu schützen. Aber es gibt auch technologische Möglichkeiten, zum Beispiel Drohnen, um Geländeabschnitte zu überwachen. So könnten wir unsere Mittel sorgsamer einsetzen.
Die Armee half in den letzten Jahren vor allem bei Naturkatastrophen. Da sind ganz andere Fähigkeiten gefragt als bei Kampftruppen. Wo sehen Sie den Bedarf, mehr zu investieren?
Den grössten Bedarf sehe ich bei der Erneuerung der Mittel für die Bodentruppe, da kommen viele Systeme ans Ende ihrer Lebenszeit.
Aktuell geht es um die Beschaffung des Kampfjets: Ihre Chefin, Bundesrätin Viola Amherd, fordert nun einen Stopp der Anti-F-35-Initiative. Sie werden da kaum widersprechen. Aber: Wie wichtig sind Jets?
Die Jets sind sehr wichtig. Auch wenn es noch keine vertieften Analysen gibt, zeigen doch die vergangenen acht Tage in der Ukraine, dass Kampfflugzeuge eine grosse Rolle spielen. Noch ist es Russland nicht gelungen, die Luftüberlegenheit über die gesamte Ukraine zu erlangen. Und so lange können sich Bodentruppen nicht frei bewegen. Der F-35 wird bei uns eine wichtige Lücke schliessen. Beim täglichen Luftpolizeidienst und Konferenzschutz, aber auch im Fall von bewaffneten Konflikten.
Was ist Ihre Hoffnung für die kommenden Tage und Wochen?
Mich haben die Geschehnisse auch in meinen persönlichen Wertvorstellungen erschüttert. Die Bilder von eingeschlossenen Menschen in den Städten machen mich am meisten betroffen. Ich hoffe, es folgt bald die nächste Phase des Kriegs mit Friedensverhandlungen und dem Ende des Konflikts.