Jura Ost (Bözberg, AG), Nördlich Lägern (AG/ZH) oder Zürich Nordost (Weinland, ZH/TG). Eigentlich sollte der Entscheid über das Schweizer Endlager erst am Montag fallen. Doch bereits am Samstag wurden die Grundstücksbesitzer informiert: Laut «Tages-Anzeiger» wird der Schweizer Atommüll am Standort «Nördlich Lägern» vergraben. Eine Sprecherin des Bundesamts für Energie bestätigt dies der Nachrichtenagentur SDA.
Brisant ist: Nördlich Lägern wurde 2015 von der Nagra als Standort disqualifiziert, weil der Bau des Lagers dort nicht möglich sei. Erst durch ein externes Gutachten wurde diese Einschätzung nachträglich widerlegt und Nördlich Lägern wieder in die Auswahl aufgenommen.
Der Entscheid ist umstritten: Es geht schliesslich um einen Standort, der Hunderttausende Jahre bestehen wird. So diskutiert die Schweiz auch schon seit über 50 Jahren, wo der Atommüll seine letzte Ruhe finden soll. Zuständig für den Entscheid ist die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra). Sie wurde 1972 – also vor genau 50 Jahren – zu diesem Zweck gegründet.
Betroffene äussern sich schockiert
Gegenüber dem «Tages-Anzeiger» äussern sich Betroffene aus dem Haberstal bei Stadel schockiert über den Entscheid der Nagra. Bäuerin Ramona Keller meinte bereits Mitte Woche: Sie und ihre Familie werden ihren Hof wohl verlassen müssen – denn in unmittelbarer Nähe sollen die Oberflächenanlagen für das Lager hinkommen. «Wir können ja nicht mit einem Tiefenlager im Garten leben.»
Auch die Frage der Entschädigung stellt sich nun. Zwar beginnt der Bau erst in rund zehn Jahren – davor muss noch der Bundesrat zustimmen und es könnte zu einer Volksabstimmung kommen – doch der Wert der Immobilien wird bereits jetzt massiv an Wert verlieren, so die Zeitung.
«So vieles ist unklar», sagt die Grüne Zürcher Kantonsrätin Wilma Willi, die ebenfalls ein Haus in der Nähe besitzt. «Es fällt jetzt ein unvorstellbar grosser Brocken auf unsere Füsse. Die Schweiz darf uns damit nicht alleine lassen», sagt sie.
Ganz in der Nähe Kellers Hof, in einem Mietlokal direkt an der Hauptstrasse und umgeben von Feldern, feiert David Markovic aus Bülach heute Samstag seinen 18. Geburtstag in einem Mietlokal. Vom Entscheid will sich der junge Mann das Fest nicht verderben lassen. Und trotzdem: «Ich finde es nicht gut, wenn der Atommüll hier in der Region entsorgt wird», sagt er zu Blick. «Ich mache mir Sorgen, dass etwas passieren, dass das Endlager unserer Gesundheit schaden könnte.» Auch sein Vater Nikola Markovic ist nicht begeistert: «Ich möchte kein Atomendlager in unserer Nähe – schon nur meiner drei Kinder wegen», sagt er. Aber wahrscheinlich werde man es akzeptieren müssen: «Die Entscheidungsträger machen eh, was sie wollen.»
Andere im Dorf Stadel zeigen sich pragmatisch: «Irgendwo muss das Endlager ja hin», sagt Anwohnerin Jolanda Eberle. Sie habe eher allgemeine Bedenken, was die Atomkraft angehe. Sicherheitsbedenken habe er nicht, sagt derweil Marco Plüss. «Natürlich ist es schon nicht so schön, dass der Atommüll hier entsorgt werden soll», sagt er, «aber ich akzeptiere den Entscheid.»
Es gibt noch kein Vorbild
Für die Lagerung von Atommüll, der noch für Jahrtausende äusserst gefährlich ist, gibt es bis jetzt noch keine Vorbilder. Viele Länder bauen zwar ein Endlager tief im Boden, in Betrieb aber ist noch keines. Blick beantwortet die wichtigsten Fragen zum Tiefenlager.
Wieso braucht es ein Tiefenlager?
Atommüll entsteht bei der Stromproduktion in Atomkraftwerken (AKW), aber auch in Medizin, Forschung und Industrie. An der Erdoberfläche sollten hochradioaktive Abfälle nicht gelagert werden, weil niemand weiss, wie sich Gesellschaft und Erdoberfläche in den kommenden Jahrtausenden verändern werden, vor allem was Kriege oder die Klimaerwärmung betrifft. Als sicherste Lösung gilt das Einlagern in mehreren hundert Metern Tiefe. In der Schweiz eignen sich dabei vor allem die Gesteinsschichten aus dem sogenannten Opalinuston – ein grauschwarzer Schieferton.
Was genau soll im Boden gelagert werden?
Eingelagert werden sollen vor allem hochradioaktive Brennelemente aus den AKW. Dazu kommen schwach- und mittelradioaktive Abfälle wie kontaminierte Schutzkleidung, Rohre und Isolationsmaterialien der AKW, sowie Abfälle aus Forschung, Medizin und Industrie. Der Bund rechnet damit, dass bis zum Jahr 2075 ein Abfall-Volumen von rund 90'000 Kubikmetern anfällt. Das entspricht etwa 750'000 Badewannen.
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Wie gefährlich sind die Abfälle?
Von diesen Abfällen geht eine unmittelbare Gefahr für Mensch und Umwelt aus, und dies auch noch für Zehntausende von Jahren. Atomarer Abfall ist schon in kleinsten Mengen krebserregend und schädigt das Erbgut.
Wie lange soll das Lager in Betrieb sein?
Ein Tiefenlager muss die Abfälle für Zehntausende bis Hunderttausende von Jahren sicher einschliessen, bis sie zur Unschädlichkeit zerfallen sind. Plutonium-239 beispielsweise, das unter anderem für den Bau von Atomwaffen genutzt wird, braucht mehr als 24'000 Jahre, bis die Hälfte der radioaktiven Atomkerne zerfallen ist (Halbwertszeit).
Wo lagert der Atommüll denn jetzt?
Der bisher angefallene Atommüll liegt derzeit noch in Hallen an der Erdoberfläche - bei den Kernkraftwerken selber und in zwei Zwischenlagern im Kanton Aargau.
Weshalb wartet man nicht auf neue Technologien?
Mit sogenannter Transmutation, auch Kernumwandlung genannt, könnten sich langlebige Radionuklide theoretisch in kurzlebige verwandeln lassen. Statt mehrere zehntausend Jahre würden einige Abfälle also «nur» noch mehrere hundert Jahre strahlen. Gemäss dem Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) ist dies jedoch (noch) kein realistisches Szenario. Und selbst wenn Transmutation dereinst im grossen Stil betrieben würde: Es blieben immer noch langlebige Abfälle übrig, die in ein Tiefenlager gebracht werden müssten.
Was machen andere Länder mit ihrem Atommüll?
In Europa werden derzeit rund 60'000 Tonnen hoch radioaktiver Abfall aus Atomkraftwerken gelagert, in der Regel – wie in der Schweiz – in überirdischen Anlagen. Bis heute ist weltweit kein einziges Endlager für stark strahlende Abfälle in Betrieb. Am weitesten ist Finnland: Auf der Insel Olkiluoto wird in bis zu 500 Metern Tiefe an einem Endlager gebaut. 2024 oder 2025 soll die Einlagerung beginnen. Schweden und Frankreich haben definitive Standorte bestimmt.
Wie geht es nach dem Standortentscheid weiter?
Die Diskussionen werden weitergehen. Umstritten ist etwa, wo die «Heisse Zelle» gebaut werden soll. Dabei handelt es sich um die roboterbetriebene Verpackungsanlage für die Brennelemente. Der Zürcher Regierungsrat hielt bereits fest, dass er sich entschieden gegen die «Heisse Zelle» wehren werde. «Im Sinne einer angemessenen Lastenverteilung» solle dieser Bau woanders hinkommen, selbst wenn das Tiefenlager im Kanton Zürich gebaut werden sollte.
Aber ist der Standort denn jetzt fix?
Nicht ganz. Zuerst wird die Nagra gegen Ende 2024 ihr Gesuch bei den Bundesbehörden einreichen. Voraussichtlich erst 2029 wird der Bundesrat den definitiven Standortentscheid fällen. Danach muss das Bundesparlament das Lager noch genehmigen. Es ist absehbar, dass es danach auch noch eine Volksabstimmung geben wird.
Der Baustart ist für das Jahr 2045 vorgesehen. Gemäss Planung der Nagra könnten erste Abfälle dann um das Jahr 2050 eingelagert werden. Danach folgt eine «Beobachtungsphase», die 50 Jahre lang dauern soll. Im Jahr 2115 soll das Lager dann verschlossen werden.
Kann die betroffene Bevölkerung den Entscheid anfechten?
Nein. Der Entscheid ist definitiv. Bis zum Bau des Tiefenlagers sind allerdings noch weitere Schritte notwendig. Gegen die Rahmenbewilligung kann die Bevölkerung beispielsweise noch Einsprache erheben und das Projekt so verzögern. (SDA)