Alt Bundesrat Couchepin zur Bundesratswahl
«Bundesrat ist keine Titanen-Arbeit»

Der Rücktritt von Simonetta Sommaruga hat eine Debatte ausgelöst über das Bundesratsamt als Verschleissjob. Man solle nicht übertreiben, findet alt Bundesrat Pascal Couchepin und zeigt, wie Zwetschgenkuchen bei persönlichen Angriffen helfen kann.
Publiziert: 13.11.2022 um 12:15 Uhr
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Aktualisiert: 14.11.2022 um 09:07 Uhr
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Alt Bundesrat Pascal Couchepin empfing SonntagsBlick zu Hause in Martigny VS.
Foto: Philippe Rossier
Christian Dorer und Thomas Müller (Interview), Philippe Rossier (Bilder)

Am 7. Dezember wählt das Parlament zwei neue Bundesräte. Sie übernehmen das Amt in Krisenzeiten – es droht die Energiemangellage, ein Krieg tobt auf europäischem Boden. Pascal Couchepin (80) hat als Bundesrat polarisiert, doch in Krisen hat der dominante Staatsmann stets einen kühlen Kopf bewahrt. SonntagsBlick besuchte ihn zu Hause in Martigny VS und sprach mit ihm über die Vereinbarkeit von Bundesrats-Job und Familie, die Ersatzwahl und das Regieren in Krisenzeiten.

SonntagsBlick: Herr Couchepin, Sie sind ein Animal politique. Bei welchen News aus Bundesbern juckt es Sie?

Pascal Couchepin: Die Politik interessiert mich noch immer sehr, ich analysiere die Lage und mache Prognosen. Die behalte ich für mich, denn ein ehemaliger Bundesrat soll nicht Einfluss nehmen. Aber wenn man mich fragt, was einen guten Bundesrat ausmacht, dann gebe ich eine Antwort.

Also fragen wir: Was macht einen guten Bundesrat aus?
Er hat zwei Aufgaben: Er ist Chef seines Departements und Mitglied des Kollegiums. Für beides muss er die nötigen Qualitäten besitzen.

Und die wären?
Teamgeist! Er muss das Vertrauen seiner Kolleginnen und Kollegen gewinnen. Das bedeutet nicht, gleicher Meinung zu sein, sondern die Fähigkeit, Kompromisse zu machen – mal geben, mal nehmen. Als Chef des Departements darf man sich nicht in den Details verlieren, sondern muss seinen Mitarbeitenden viel Freiheit lassen. Manche Bundesräte betreiben Mikromanagement. Das ist falsch. Die Verwaltung in Bern arbeitet sehr gut und ist treu.

Der Staatsmann

Pascal Couchepin (80) war von 1998 bis 2009 Mitglied des Bundesrats. Der Walliser führt ein Leben für die Politik: Über ein Dutzend Jahre war er Stadtpräsident von Martigny VS, danach sass er fast 20 Jahre im Nationalrat und amtete für einige Zeit auch als FDP-Fraktionschef. Er lebt noch immer in Martigny.

Pascal Couchepin (80) war von 1998 bis 2009 Mitglied des Bundesrats. Der Walliser führt ein Leben für die Politik: Über ein Dutzend Jahre war er Stadtpräsident von Martigny VS, danach sass er fast 20 Jahre im Nationalrat und amtete für einige Zeit auch als FDP-Fraktionschef. Er lebt noch immer in Martigny.

Am 7. Dezember sind Bundesratswahlen. Welche Tipps geben Sie den Kandidatinnen und Kandidaten?
Wer antreten will, sollte das innerlich schon seit einiger Zeit wissen und sich vorbereiten: sich also im Parlament vernetzen, Präsenz zeigen, sich breit interessieren.

Welche Fähigkeiten braucht es?
Man sollte Erfahrung aus einer Exekutive haben, als Regierungsrat oder Gemeindepräsident. Denn die Politik funktioniert anders als die Wirtschaft: Es gibt viel mehr Stakeholder. Man kann nicht einfach entscheiden, sondern muss lernen, mal nachzugeben und dafür ein anderes Mal recht zu bekommen.

Sie sind einer der wenigen, die immer offen zu ihren Bundesrats-Ambitionen standen. Die meisten zieren sich. Was ist erfolgversprechender?
Ich habe früh in meinem Leben entschieden, immer zu sagen, was ich denke. Meine Erfahrung: Die Menschen schätzen Offenheit, auch wenn sie anderer Meinung sind. Was den Bundesrat betrifft: Ja, ich hatte Ambitionen, war aber nicht darauf fixiert.

Reden wir über die Wahlen: Die Grünen treten nicht an. Hätten sie die Chance nutzen sollen?
Die Grünen haben keinen Anspruch auf einen Bundesratssitz. Um diesen zu rechtfertigen, zählen sie die eigenen Prozente und die der Grünliberalen zusammen. Doch das sind zwei verschiedene Parteien. Die Bürgerlichen addieren auch nicht einfach die Wählerprozente aller Parteien zusammen.

Die SP will ein reines Frauenticket. Ist das konsequente Frauenförderung – oder Diskriminierung der Männer?
Die SP wird Schwierigkeiten haben mit guten männlichen Kandidaten wie dem Zürcher Ständerat Daniel Jositsch, der jetzt dennoch seine Kandidatur bekannt gegeben hat. Die interessantere Frage lautet, was passiert, wenn das Parlament einen Mann wählen würde. Wird die SP gleich wie die SVP nicht offizielle Kandidaten zwingen, eine Wahl abzulehnen? Das wäre bedenklich!

Wieso?
Das Parlament soll die Freiheit haben zu wählen, wen es will. Ich halte es für schlechten Stil, den Kandidaten das Versprechen abzunehmen, eine Wahl zu verweigern, wenn sie nicht auf dem Ticket sind. Das ist nicht gesund für die Demokratie und gegen den Geist des Konkordanzsystems.

In der SVP gilt das seit Jahren. Auch Albert Rösti musste kürzlich klein beigeben und öffentlich versprechen, dass er eine wilde Wahl nicht annehmen würde.
Das hat mich überrascht. Ich hätte erwartet, dass er sagt, er werde den Entscheid des Parlaments respektieren.

Die SP-Spitze wünscht sich eine junge Mutter als Nachfolgerin von Simonetta Sommaruga. Das hat eine Debatte ausgelöst: Hat ein Bundesrat noch ein Privatleben?
Es wird jetzt viel übertrieben. Ich schlafe gern und gut. Auch als Bundesrat bin ich sehr oft früh ins Bett gegangen, manchmal bin ich halt in der Nacht wieder aufgewacht, weil ich eine Idee hatte. Das war oft die produktivste Zeit. Bundesrat ist keine Titanen-Arbeit. Es ist anstrengend, aber machbar. Während meiner elf Jahre war ich nur einen einzigen Nachmittag lang krank.

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Sie haben drei Kinder. Wie ging das neben dem Bundesratsamt?
Wenn ich heute meine drei Kinder und elf Enkel sehe, stelle ich fest: Die Erziehung ist gelungen. Das ist ganz stark das Verdienst meiner Frau, aber ich habe auch meinen Anteil dazu beigetragen.

Hatten Sie Zeit für Ihre Familie?
Ja, sicher. Auch ein Bundesrat hat Ferien, im Sommer zwei Wochen und über die Festtage. An Ostern habe ich immer eine Reise mit meinen Kindern gemacht. Und am Sonntag habe ich an keinen Veranstaltungen teilgenommen und war immer für meine Familie da.

Und Zeit für sich selbst?
Nach der Bundesratssitzung am Mittwoch ging ich mit den anderen zu Mittag essen. Gleich danach fuhr mich mein Chauffeur ins Wallis. Dann bin ich von hier in Martigny alleine zu Fuss zu meinem Chalet in Chemin spaziert und habe die Sitzung analysiert: Was ist gut gelaufen, was nicht? Oben wartete der Chauffeur mit einem Zwetschgenkuchen. Den assen wir zusammen auf der Terrasse des Chalets, danach ging es mit frischen Kräften zurück nach Bern.

Was ist das Schwierigste am Amt?
Zu Beginn die Dossiers kennenzulernen und zu merken, was möglich ist und was nicht. Dann muss man herausfinden, wem in der Verwaltung man trauen kann, als Mensch und als Fachmann. Wer Erfahrung darin hat, mit Menschen zu arbeiten, ist schnell eingearbeitet.

Wie stark haben Sie persönliche Angriffe belastet?
Ich habe nicht den Eindruck, sehr viele davon erlebt zu haben. Oder ich habe sie schnell vergessen. Wer damit nicht umgehen kann, sollte nicht Bundesrat werden.

Waren die elf Jahre im Bundesrat die beste Zeit Ihres Lebens?
Was ist die beste Zeit eines Lebens? Während elf Jahren kann man nicht ständig glücklich sein, ob man im Bundesrat ist oder nicht. Es war sicher die intensivste Zeit meines Lebens – und am spannendsten waren die Krisenzeiten. J’aime les crises! Das sind die Zeiten, in denen man früh ins Bett geht und mitten in der Nacht erwacht mit Ideen.

Beim Swissair-Grounding 2001 waren Sie Wirtschaftsminister und 2008 Bundespräsident, als die UBS gerettet werden musste. Was sind Ihre Lehren aus der Krise?
Zwei Dinge sind am wichtigsten: Erstens muss man auf die Wissenschaft hören und zweitens gut vorbereitet sein.

Ein Beispiel, bitte.
Meine erste Krise war der Rinderwahnsinn. Coop und Migros wollten damals auf Staatskosten alle Kühe testen, die älter als 18 Monate waren – obwohl die Wissenschaft sagte, Tests seien erst ab 30 Monaten aussagekräftig. Also habe ich mich geweigert. Die Detailhändler haben protestiert, und andere Bundesräte wollten klein beigeben. Ich bin stur geblieben. Am Ende ist es gut ausgegangen, niemand ist an der Krankheit gestorben.

Und die gute Vorbereitung?
Das war eine Lehre aus dem Swissair-Grounding, wo wenig vorbereitet war. In der Finanzkrise war das anders: Wir hatten schon geklärt, wer zuständig wäre, sollte eine Bank in Not geraten – obwohl es damals undenkbar war, dass dieser Fall eintreffen würde. Als dann die UBS ein Problem hatte, waren die Verantwortlichkeiten geklärt. Ich musste für die Lösung nur noch eine Mehrheit im Bundesrat finden.

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An Krisen mangelt es auch heute nicht: Pandemie, Krieg, Energiemangel, Inflation – wir leben in verrückten Zeiten.
Es ist heute nicht anders als früher. Ich wurde während des Zweiten Weltkriegs geboren. Danach folgte eine Krise nach der anderen: Kalter Krieg, Kommunismus in Teilen Europas, Koreakrieg, Vietnamkrieg, Aufstand in Budapest, Flüchtlingsströme, der Zusammenbruch des sozialistischen Traums. Wenn man mitten in der Krise steckt, hat man immer den Eindruck, diese Krise sei einmalig. Die Geschichte ermöglicht es, sich in eine längere Zeitspanne einzuordnen. Dann sieht man: Krisen sind der normale Zustand der Menschheit.

Woher kommt Ihr unerschütterlicher Optimismus?
Den habe ich mir aufgebaut. In meiner Jugend war es nicht einfach: früher Tod des Vaters, viele Leute in meinem Umfeld starben, Geldnot. Damals habe ich mir gesagt: Nur mit viel Willen und Optimismus kann ich etwas aufbauen.

Wie wichtig ist Ihr Glaube?
Dazu kann ich Folgendes sagen: Ich glaube, dass ich eine Zukunft habe – und ich glaube, dass mein Land eine Zukunft hat. Ich vermute aber, Optimismus ist eher eine Frage des Charakters. Manche Leute sehen immer zuerst das Positive, andere das Negative.

Sind Sie auch für Ihre Partei, die FDP, optimistisch?
Den Umfragen zufolge wird die FDP leicht gewinnen.

Obwohl es nicht Ihre Parteilinie ist, die der neue Präsident Thierry Burkart vertritt: klar anti-etatistisch, klar bürgerlich-liberal.
Ich habe Thierry Burkart erst einmal getroffen und muss sagen: Er ist eine positive Entdeckung. Mit ihm kann man diskutieren, und er hat Humor. Das ist wichtig, denn das heisst, er ist kein Fanatiker. Mit ihm hat die FDP gute Chancen. Ich bin zwar mit seiner Haltung zum EU-Rahmenvertrag nicht einverstanden, aber das ist nicht entscheidend.

Ein bisschen europafreundlich, ein bisschen etatistisch, aber liberal – existiert die Couchepin-FDP überhaupt noch?
Nicht eine Couchepin-FDP, aber eine gemässigte FDP, die Lösungen sucht, die das grosse Ganze im Auge hat und nicht nur Eigeninteressen. Das ist die FDP, die die Schweiz erschaffen hat. Das ist auch heute die Rolle der FDP.

Sie haben kürzlich in der «NZZ» über Ihre eigene Abdankung gesprochen und gesagt, es solle eine Prozession sein um den Zentralplatz in Martigny, mit allem Tamtam. Was ist der Grund?
Ich habe meine Meinung geändert! Meine Kinder sollen das dereinst entscheiden. Aber sie wissen, was ich mir wünsche. Wenn sie das nicht wollen, ist es auch in Ordnung. Man stirbt zwar allein, aber man ist nicht der Erste, der stirbt. Es gibt Millionen Menschen, die vor mir mit den gleichen Überzeugungen gestorben sind. Ich bin also einer unter anderen. Darum hätte ich gerne ein traditionelles Trauerfest, um zu zeigen: Es ist kein besonderes Ereignis. Ein Mensch verschwindet, andere kommen, die Welt dreht sich weiter.

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