Russland war vor genau einem Jahr, am 24. Februar 2022, in die Ukraine einmarschiert und führt seitdem einen brutalen Angriffskrieg. Millionen Menschen sind geflohen, Tausende tot. Die Zerstörung ist immens.
Wo gibt es einen Weg heraus aus dieser Katastrophe? Und welche Rolle spielen die Schweiz und die Neutralität? Darüber sprach die ehemalige Aussenministerin Micheline Calmy-Rey (77) in der Sendung «Hier fragt der Chef» bei Blick TV.
Vor genau einem Jahr, am Tag des Kriegsausbruchs, war sie bereits zu Gast in der Sendung.
Blick: Frau Calmy-Rey, hätten Sie gedacht, dass sich die Ukraine ein Jahr später so tapfer hält?
Micheline Calmy-Rey: Das ist eine gute Nachricht. Dank der Hilfe der westlichen Länder kann die Ukraine Widerstand leisten. Was wir erleben, ist eine Wiedergeburt der Nato. Man hilft der Ukraine mit Waffen, will aber nicht in einen direkten Krieg mit Russland geraten.
Ist es nicht längst ein Krieg zwischen Russland und dem Westen?
Das sagte Wladimir Putin in seiner letzten Rede. Er behauptet, Washington und die Nato hätten den Kampf gegen Russland seit langer Zeit vereinbart.
Befürchten Sie eine Ausweitung des Krieges?
Eine solche Eskalation wäre gefährlich. Sie würde einen Dritten Weltkrieg bedeuten. Darum ist der Krieg eine Herausforderung für die westlichen Länder. Sie wollen helfen, aber gleichzeitig keine Eskalation provozieren – um nicht selber in einen Krieg involviert zu werden.
Unsere Nachbarstaaten liefern Waffen an die Ukraine. Die Schweiz erlaubt nicht einmal die Wiederausfuhr von Schweizer Munition. Steht unser Land hier nicht auf der falschen Seite der Geschichte?
Nein, ich finde nicht. Die Schweiz hat die Aggressionen Russlands verurteilt und Sanktionen verhängt. Das Kernstück der Schweizer Neutralität besagt, dass wir uns nicht an einem militärischen Krieg zwischen Staaten beteiligen sollen. Wir sollen unser Territorium verteidigen, aber unsere Truppen und Waffen nicht anderen Ländern zur Verfügung stellen.
Dann sind Sie mit dem Bundesrat zufrieden?
Ich bedaure, dass der Bundesrat hier keine Leadership zeigt. Das war bereits vor einem Jahr so, als er über die Sanktionen entscheiden musste. Jetzt haben wir das Gleiche mit der Waffenausfuhr. Er nimmt in dieser Frage die Zügel nicht in die Hand, sondern lässt die Kommissionen im Parlament alleine. Er könnte Argumente bringen, könnte sagen, was er möchte. Aber: nein!
Erklärt sich der Bundesrat zu wenig?
Er erklärt sich bei den anderen Ländern gar nicht. Wir haben das auch bei der Sicherheitskonferenz in München am vergangenen Wochenende gesehen. Der Bundesrat sagt nur: «Das Parlament diskutiert.» Und er wartet lieber darauf, bis das Parlament einen Kompromiss findet. Stattdessen müsste er im In- und Ausland erklären, was wir in anderen Bereichen noch mehr tun könnten. Zum Beispiel bei der Minenräumung. Da haben wir eine kleine Industrie, wir könnten sie viel mehr unterstützen.
Wie kann die Schweiz bei der Vermittlung eine Rolle spielen?
Eine direkte Vermittlung zwischen der Schweiz und der Ukraine ist ausgeschlossen. Die Schweiz könnte jedoch beim Gefangenenaustausch helfen oder beim Getreideabkommen. Die Schweiz ist jetzt Mitglied des Uno-Sicherheitsrats in New York. Sie könnte also auch helfen, das Leiden der Menschen in der Ukraine zu lindern, und sich bei humanitären Projekten noch viel mehr engagieren.
Bereits vor einem Jahr, am Tag des Kriegsausbruchs, haben Sie im Gespräch mit Blick für harte Sanktionen plädiert. Sind sie hart genug?
Die Schweiz hat die EU-Sanktionen übernommen, das ist richtig. Aber die Schweiz könnte auch diesbezüglich mehr tun, zum Beispiel bei den Oligarchengeldern. Hier gehen wir nicht ans Maximum. Wir lagern gemäss Informationen der Schweizerischen Bankiervereinigung 200 Milliarden Franken an Oligarchengeldern. Aber wir haben nur sieben oder acht Milliarden Franken davon blockiert. Wir könnten auch bei der humanitären Hilfe mehr tun. Bei der Minenräumung, bei der Diplomatie.
Vor einem Jahr waren Sie nicht optimistisch, was den Verlauf des Krieges angeht. Sie sagten: «Man kann Wladimir Putin nicht stoppen.» Wie sieht es heute aus?
Was für Russland auf dem Spiel steht, ist der Zugang zum Schwarzen Meer. Putin braucht die Krim. Und solange niemand zu Verhandlungen bereit ist, wird der Krieg weitergehen – leider!
Eine pessimistische Annahme.
Eine realistische.
Gibt es etwas, das Sie bei diesem ganzen Leid optimistisch stimmt?
Ich glaube nicht, dass man optimistisch sein kann. Denn das Resultat dieses Krieges ist unter anderem auch eine Annäherung zwischen China und Russland. Zwei Länder, die eine andere Weltordnung wollen. Es ist ein Krieg zwischen zwei Imperien. Menschen leiden in der Ukraine, in Russland, in ganz Europa. Das Ende des Krieges wird erst kommen, wenn eine Kriegspartei sagt: «Genug jetzt, wir können uns nicht noch mehr Tote und noch mehr Zerstörung leisten.» Erst dann werden sich beide Parteien an den Verhandlungstisch setzen.