Ein kleiner Bahnhof, ein Golfplatz, etwas mehr als 3000 Einwohner. Luterbach in der Nähe von Solothurn ist ein ganz gewöhnliches Schweizer Dorf. Mit Sorgen, die auch andere Dörfer kennen: Leute zu finden, die im Gemeinderat für wenig Geld und noch weniger Ehre viel chrampfen, zum Beispiel.
Die Fusion mit den Nachbarn, die das Problem entspannt hätte, scheiterte in Luterbach. Die Suche nach Gemeinderäten im Dorf, das mit Willi Ritschard (†65, SP) bereits einmal einen Bundesrat stellte, wurde immer schwieriger. Selbst die SP-Ortspartei wurde kurzzeitig aufgelöst. Es musste sich etwas ändern.
Darum betrat Luterbach neues Terrain: Während andere Dörfer ihren Gemeinderat verkleinerten, gingen die Solothurner den umgekehrten Weg. 2017 vergrösserte sie den Gemeinderat auf 19 Sitze. «Keine Wahnsinnsänderung», sagt Gemeindepräsident Michael Ochsenbein (44). Aber er ist überzeugt: «Verkleinern bringt nichts, die bestehenden Räte haben so einfach noch mehr zu tun.»
9 von 10 Wahlen finden faktisch nicht statt
Der vergrösserte Gemeinderat trifft sich nun alle drei Monate und fällt die grossen Entscheide zu Finanzen oder Richtplan. Die alltägliche Arbeit macht eine kleinere Gemeinderatskommission, die sich öfters trifft. «Wenn man jemanden für den Gemeinderat anfragt und sagt, es gibt nur vier bis fünf Sitzungen pro Jahr, können sich das viele vorstellen», sagt Ochsenbein. Und so würden viele mal in ein Gemeindeamt reinschnuppern und dann in die zeitaufwendigere Gemeinderatskommission wechseln. Ein System, das bislang Erfolg hatte.
Erfolg, von dem andere Dörfer nur träumen können. Oliver Dlabac (40) vom Zentrum für Demokratie in Aarau forscht zum Thema Milizsystem. Er kennt das Problem gut. In den ländlichen Gemeinden im Kanton Aargau fanden zuletzt neun von zehn Wahlen faktisch nicht statt – weil es nur einen Kandidaten pro Sitz gab. «Alle wollen ein Milizsystem», sagt er, «aber niemand will dafür arbeiten.»
Viele Lösungsansätze
Lösungsansätze gibt es zuhauf, Dlabac hat selbst schon welche vorgelegt: Er schlägt einen Geschäftsführer für die Verwaltung vor, die Gemeinderäte sollten sich nur auf strategische Entscheide konzentrieren. Oder ein klar abgegrenztes Teilzeitamt, das ein reduziertes Pensum im Hauptberuf ermöglicht. Wenn es nicht anders geht, auch Gemeindefusionen.
Umgesetzt würde kaum etwas davon. «Das Problem ist, dass die Gemeinderäte nicht selbst entscheiden können. Wollen sie sich zum Beispiel die Löhne erhöhen, entscheidet das die Gemeindeversammlung. Dort wird sofort der Vorwurf laut, man wolle sich bereichern», sagt Dlabac. Zudem seien viele Behörden jetzt schon am Anschlag. «Man kann da nicht noch erwarten, dass sie sich selbst reformieren.»
Vier oder acht Jahre so weiter
Dlabac spürt ein Unbehagen, wenn es darum geht, das Milizsystem zu professionalisieren. «Dabei wird die verzweifelte Hoffnung spürbar, die Vergangenheit zu behalten, obwohl sich die Lebensrealität verändert hat.» Doch viele Vorteile des Milizsystems gäbe es so – mit wenig Kandidaten – gar nicht mehr. «Man kann das vielleicht noch vier oder acht Jahre lang so weitermachen», prognostiziert er und bringt die Möglichkeit ins Spiel, dass auch Ausländer in den Gemeinderat gewählt werden könnten. «Deutschschweizer Exekutivmitglieder sind demgegenüber sehr aufgeschlossen», zitiert er aus einer Studie. «Bei der breiten Bevölkerung ist das aber fraglich.»
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Auch Luterbach will die gesamte Bevölkerung stärker einbinden: Im Dorf gibt es einen sogenannten Zukunftsrat, in dem Jugendliche unter 18 Jahren und Ausländer über die «Vision» der nächsten 20 Jahre diskutieren dürfen. Zum Beispiel zum Schwerpunktthema Energie. «Zuerst gibt es jeweils ein Referat, dann werden in Gruppen Visionen erarbeitet. Beim Apéro präsentieren wir diese», erklärt Gemeindepräsident Ochsenbein. «Dort passiert das Entscheidende» – das Dorf wächst zusammen. Und selbst die SP Luterbach politisiert wieder. Im März 2018 wurde sie neu gegründet.