50 Jahre «Kassensturz»
Die bewegte Geschichte einer SRF-Institution

Seit 50 Jahren setzt sich der «Kassensturz» für die Rechte von Konsumentinnen und Konsumenten ein. Vor der Jubiläumssendung von Dienstag schaut Blick mit wichtigen Protagonistinnen und Protagonisten auf ein einzigartiges Stück Schweizer TV-Geschichte zurück.
Publiziert: 07.01.2024 um 14:34 Uhr
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Aktualisiert: 07.01.2024 um 17:17 Uhr
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«Kassensturz»-Moderator Ueli Schmezer 1999 im damaligen Sendedekor.
Foto: SRF/Oscar Alessio
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Jean-Claude GalliRedaktor People

«Der ‹Kassensturz› ist keine blosse Sendung, sondern eine Institution, eine echte Instanz», sagt Roger Schawinski (78), der das Format 1974 gegründet und drei Jahre lang moderiert hatte.

Ueli Schmezer (62), der den «Kassensturz» ein Vierteljahrhundert lang prägte, findet: «Die Sendung ist ein Seismograf für die täglichen Sorgen und Anliegen der Leute.»

Und Kathrin Winzenried (51), die erste Frau, die den «Kassensturz» ab 2006 moderierte, meint: «Das Format setzt sich ein für jene, die es nötig haben. Nicht auf der Seite der Macht, sondern die Macht infrage stellend.»

Keine SRF-Magazinsendung war über die letzten 50 Jahre so beliebt wie der «Kassensturz». Auch 2023 schalteten im Schnitt immer noch weit über 300'000 Zuschauer ein. Rund 2300 Produkte hat der «Kassensturz» bis heute getestet, die Redaktion erhält jedes Jahr 12’000 Zuschriften.

Schawinski und die Olivetti-Schreibmaschine

Die einmalige Erfolgsgeschichte beginnt mit einem dreiseitigen Konzept, getippt auf einer Olivetti. Roger Schawinski kommt 1970 aus einem US-Studienjahr zurück, wo er den Bürgeranwalt Ralph Nader (89) erlebt und vom Konsumentenschutz fasziniert ist. «Sein Buch über Konstruktionsschwächen bei Autos prägte mich stark.»

1972 stösst er zum Schweizer Fernsehen. Dort ist ein neues Wirtschaftsformat in Planung, dem sich niemand richtig annehmen will. «Als 27-jähriger Jungspund schrieb ich dann ein Konzept für ein Magazin, das es so noch nicht gab. Und wohl auch, weil sich niemand anders meldete, wurden meine Ideen für gut befunden. Ich durfte ein Team zusammenstellen, beim Studiobau mitreden, den Namen und das Intro mit den herunterfallenden Münzen bestimmen.»

Am 4. Januar 1974 läuft die erste Folge, vierzehntäglich am Freitag. «Der Ansatz war ungewöhnlich, es gab kritische Berichte und neue technische Elemente wie Blue-Box-Aufnahmen, eine Art TV-Zauberei. Und weil ich keinen Kittel besass, musste ich mir von meinem Moderationskollegen André Francioli einen ausleihen», erzählt Schawinski.

Der berühmte Ravioli-Report von 1978

Von aussen kommt grosser Applaus, von innen Widerstand. «Ich war kein strammer Linker und erfolgreich, das weckte Kritik und Eifersucht.» Nach einem Jahr wird das Format dank guter Quoten ins Hauptprogramm gehievt. Es gibt kaum Vorgaben und wenig Kontrolle. Stirnrunzeln in der Führungsetage lösen höchstens unzufriedene Firmen aus. «Ich sagte meinen Chefs: ‹Wenn man uns einklagt, ist das kein Problem. Wir müssen kritisch sein. Es dürfen uns einfach keine Fehler passieren.›»

Exemplarisch für einen Beitrag mit grosser Wirkung ist jener vom 10. März 1978 über die Ravioli von Roco und Hero. Dieser führt zu massiven Verkaufseinbussen, die Firmen reichen Ehrverletzungsklage ein und melden Schadenersatzforderungen an.

1986 übernehmen Urs P. Gasche (78) und Hans Räz (74) und prägen das Format zehn Jahre lang. 1988 sorgen sie mit einem Beitrag über die Aufzuckerung des Schweizer Weissweins für Furore. Im selben Jahr löst der «Fall Melanie» über ein todkrankes Mädchen heftige Empörung gegenüber der IV aus. Bundesrat Flavio Cotti (1939–2020) schaltet sich persönlich ein.

Die Ära Schmezer

Mitte der 1990er wird das Format aufgefrischt. Hansjörg Utz (73) holt den Berner Ueli Schmezer (62) von Radio DRS 3 als Moderator. «Ich empfand es als grosse Ehre, für diesen Job angefragt zu werden. ‹Kassensturz› ist von mir aus gesehen der spannendste und härteste Moderationsjob, den du bei SRF machen kannst.» Schmezer setzt sich zuerst eine Frist von fünf Jahren. «‹Kassensturz› ist Knochenarbeit. Viele glauben, der Fragesteller im Studio habe ein Heimspiel, doch das ist höchstens die halbe Wahrheit. Der Teppichhändler hat sich ein Leben lang mit Teppichen beschäftigt, während ich in zwei, drei Tagen auf einen vergleichbaren Stand kommen musste.»

Schmezer bleibt 25 Jahre. Er habe am Morgen beim Blick in den Spiegel immer sagen können: «Ich mache etwas Sinnvolles. Was wir tun, nützt Menschen und hat Relevanz. Der ‹Kassensturz› nimmt die Leute wirklich ernst.»

Stimmen gegen den «Kassensturz» sind aber stets vorhanden. Da ist einerseits der Vorwurf, das Format erzeuge beim Publikum im Hinblick auf die Quote gezielt Empörung. Zweitens wird moniert, dass es eine klare Opfer-Täter-Position gebe und sich der Aufbau und der Inhalt der Geschichten oft wiederholen würden. Die Sendung trage dazu bei, dass manche Leute ihre Selbstverantwortung ablegen würden. 

Dazu sagt Schmezer: «Wir wollten mündige Konsumentinnen und Konsumenten. Wir fragten Anrufer und Briefschreiberinnen immer: ‹Haben Sie sich schon beschwert und Ihre Möglichkeiten ausgeschöpft?› Erst dann griffen wir ein. Aber es gibt auch viele Leute, die sich nicht selber wehren können. Und der viel zitierte Satz ‹Wie kann man nur so blöd sein› ist unfair. Denn manche Menschen sind schlicht nicht in der Lage zu merken, dass sie betrogen werden.»

Grosse Wellen schlägt 2006 die «Grapsch»-Affäre. In einem Beitrag wird gezeigt, wie ein bekannter Schönheitschirurg die nackten Brüste einer Frau berührt. Das Obergericht Zürich verurteilt vier SRF-Mitarbeiter wegen mehrfachen Abhörens und Aufnehmens von fremden Gesprächen zu bedingten Geldstrafen. Das Bundesgericht bestätigt das Urteil. 2010 zeigt der «Kassensturz», wie BMW in Deutschland den Kauf von Neuwagen an Schweizer Kunden verweigert. Aufgrund dieses Berichts verhängt die Wettbewerbskommission Weko 2012 eine Rekordbusse von 156 Millionen Franken.

Winzenried und die Coop-Metzger

Im November 2011 gibt eine Geschichte über den Verkauf von abgelaufenem Fleisch bei Coop zu reden und löst beim Grossverteiler heftige Reaktionen aus. 

Kathrin Winzenried erinnert sich noch gut daran. «Was ich in all der Zeit geschätzt habe: Unsere Arbeit bei SRF war nie tangiert durch die Geschäftsleitung. Da ist ein eiserner Vorhang zwischen Leitung und Redaktion, es gab Rückfragen, aber keine Interventionen. Wir konnten immer offen Bericht erstatten und mussten uns nicht ducken.» Den Wert des Formats definiert sie so: «In einer immer komplexeren Welt ist Orientierung enorm wichtig. Der ‹Kassensturz› reduziert für Konsumentinnen und Konsumenten diese Komplexität. Dass man sich auf etwas verlassen kann, was nicht die Mächtigen schützt und unterstützt, sondern sich im Sinn der Konsumentinnen und Konsumenten einsetzt und Missstände öffentlich macht.»

Das Format ist auch politischen Einflüssen ausgesetzt. Im September 2015 erscheint der Beitrag «Parteien im Konsumentencheck». Die SVP-Politiker Gregor Rutz (51) und Natalie Rickli (47) gelangen mit einer Beschwerde an die Unabhängige Beschwerdeinstanz (UBI), weil sie ihre Partei verunglimpft sehen. Die Kommission kommt zum Schluss, die Redaktion habe den Sorgfaltspflichten in ungenügender Weise Rechnung getragen, sachlich aber keine Fehler begangen.

Ein Ende der «Kassensturz»-Geschichte ist nicht in Sicht. Winzenried, Schmezer und auch Schawinski prophezeien dem Format noch ein langes Leben. Und mit André Ruch (44) steht neben Bettina Ramseier (43) auch schon ein neuer Moderator am Start.

Jubiläumssendung: Dienstag, 9. Januar, 21.05 Uhr, SRF 1 

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