Zu Besuch beim ungewöhnlichsten Sternekoch der Schweiz
Neues vom «Hexer»

Stefan Wiesner, auch bekannt als «Hexer», gilt als verrücktester Koch der Schweiz, der die Komponenten für seine Kreationen am liebsten in der freien Natur sucht. Blick hat ihn auf einem Streifzug im Moor begleitet und in seinem Restaurant Mysterion Platz genommen.
Publiziert: 16.06.2024 um 14:39 Uhr
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Escholzmatt-Marbach, die Heimat des «Hexers», wo er 34 Jahre lang das Restaurant Rössli führte. Seine Lehre absolvierte er im Château Gütsch in Luzern.
Foto: Keystone
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Jean-Claude GalliRedaktor People

Tatort Tellenmoos, ein kleines Hochmoor bei Escholzmatt LU im Entlebuch: Blick ist mit dem «Hexer» unterwegs, mit Stefan Wiesner (62), wie er bürgerlich heisst, dem unkonventionellsten, für manche gar verrücktesten Spitzenkoch der Schweiz, ausgezeichnet mit 17 Gault-Millau-Punkten und einem Michelin-Stern. Boden, Gräser und Laub sind noch feucht von der letzten Regenfront.

Wiesner zupft Blätter von einem Ast – «Vogelbeerblätter passen mit ihrem Amaretto-Geschmack perfekt in einen Drink» – und schwärmt von der frischen Luft und dem «Sound of Trees». «Jeder Baum ‹singt› und gibt Töne ab, die zusammen mit dem Duft das auch therapeutisch eingesetzte Waldbaden ermöglichen. Die Japaner nennen es ‹Shinrin Yoku›, eine Stunde davon reicht für den ganzen Tag.»

«Feuer zieht mich magisch an»

Mit lokalen Zutaten kochen heute viele Küchenkünstler. Wiesner geht diesen Weg allerdings seit Jahrzehnten derart konsequent, dass auch der Geschmack der Steine, des Regens und des Holzes in seinen Gerichten landet. Zubereitet wenn immer möglich über offenem Feuer. «Das zieht mich magisch an.» Seine Methode bezeichnet er als «alchemistische Naturküche». «Glänzen kannst Du nur mit dem Unverwechselbaren. Du musst einzigartig sein, sonst gehst du in der Masse unter.» Mit seinen Künsten war er Anfang Jahr auch in der TV-Show «Kitchen Impossible» von Tim Mälzer (53) zu sehen. «Mälzer ist ein cooler Typ», so Wiesner.

Was in seinem nächsten Umkreis liegt, fliesst in seine Kreationen ein, abgesprochen mit dem Landbesitzer. Im Moor sind es die Birken, die über Nacht bis zu zwei Liter Saft abgeben. Daraus macht Wiesner zur Vorspeise eine leicht säuerliche Suppe, aus der gemahlenen Rinde gibt es Nudeln als Einlage und aus den gehackten Blättern ein Pesto. Dann fesselt ein Ameisenhaufen seinen Blick. Wiesner breitet ein steriles Gazetuch aus. Auf dem Tuch hinterlassen die Ameisen ihre Ausscheidungen, die Wiesner später zum Marinieren nutzt.

Dann beginnt er sorgfältig zu graben und trägt die oberste Bodenschicht ab. Zum Vorschein kommt dunkler Torf. «Das ist kein Dreck, sondern fermentierter, reiner Pflanzenstoff, der zum Teil schon Tausende von Jahren hier liegt.» Auf einem Brett formt er kleine Kugeln, übergiesst sie mit schottischem Single-Malt-Whisky – er schwört auf den rauchig-torfigen «Laphroaig», die Lieblings-Marke von König Charles III. (75) – und streut gemahlene Schokolade darüber. Fertig sind die Torf-Pralinés. Unsere Skepsis verfliegt mit dem ersten Bissen.

Getrockneter Torf eignet sich zum Räuchern oder gemahlen als Brotzutat. Die kleinen Moorrosen nimmt Wiesner ebenfalls mit und backt sie später bei 140 Grad im Ofen, worauf sie ihre Zähigkeit verlieren und ideal zu einem Lachs passen.

Methode aus wirtschaftlicher Not entwickelt

Dass er seine Zutaten direkt vor der Haustür sucht, entstand aus wirtschaftlicher Not. 1989 übernahm er mit seiner Frau Monica (56) das Wirtshaus seiner Eltern in Escholzmatt. «Wir waren jährlich immer etwa 100'000 Franken im Minus und ich musste mir dringend etwas einfallen lassen, um unsere Kosten zu senken.»

Nach 34 Jahren im Rössli konnte er kürzlich im Haus Weitsicht im Weiler Bramboden bei Hasle LU auf 1053 Metern über Meer sein neues Restaurant Mysterion eröffnen.

Auf dem Weg dorthin spricht er über die Macht des Kochens: «Du kannst Menschen damit beruhigen oder aufwühlen, wärmen und kühlen, gesund und krank machen oder sogar töten», sagt er und lächelt verschmitzt. Wichtig sei auch die Architektur eines Raumes, in dem eine Mahlzeit eingenommen werde, der Tisch, das Geschirr und Besteck – seine Messer stammen aus der Schmiede von Sohn Jo –, die Lautstärke und die Farben. «Doch das Allerwichtigste für Geschmack und Wohlbefinden ist das Gegenüber.»

Ayurveda als Lebensretter

Im Unterschied zu anderen Gourmet-Köchen, die ihre Gäste abends empfangen, werden Wiesners Menüs zwischen 11.30 und 17 Uhr serviert. So haben auch das sich rasch verändernde Wetter und Licht im Biosphärenreservat Entlebuch einen wichtigen Einfluss auf das Geschmackserlebnis. «Und die Gäste können die Aussicht geniessen.»

Im aktuellen Neungänger dreht sich nicht von ungefähr alles um das Thema Ayurveda. Diese indische Medizinphilosophie hat ihm eine Ärztin näher gebracht, als es ihm schlecht ging. «Während der Pandemie bin ich krank geworden, hatte ein heftiges Burnout und verlor meine ganze Freude und Energie», erzählt Wiesner. Dank ihrer Behandlung ist er wieder auf den Damm gekommen und will diese neugewonnene Kraft nun unbedingt in sein Essen einfliessen lassen. «Kochen rettet Leben», meint der «Hexer» überzeugt.

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