Foto: Philippe Rossier

Viktor Giacobbo über Rajiv, Fredi Hinz & Co.
«Ich würde diese Figuren heute nicht mehr spielen»

Die Migros stampft Papiertaschen ein. Die BBC verbannt eine beliebte Sketch-Show. Und der Schöpfer von Harry Hasler, Rajiv & Co. distanziert sich von manchen seiner Darbietungen.
Publiziert: 20.06.2020 um 23:45 Uhr
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Aktualisiert: 21.06.2020 um 13:05 Uhr
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Viktor Giacobbo als Inder Rajiv: Er spricht Englisch mit starkem Akzent und oft vulgär.
Foto: Heinz Stucki
Reza Rafi

Ein ungewaschener Typ tritt aus dem Busch und fantasiert, wie er gleich dutzendweise Mädchen in seinem Netz fängt, sie bei sich gefangen hält – «und alle Mädchen wären mein!».

Die Szene stammt aus der Oper «Die Zauberflöte» von 1791. Der Vogelfänger ­Papageno singt diesen Text, als er die Bühne betritt. Muss Wolfgang Amadeus Mozarts Werk umgeschrieben, die Aufführung wegen dessen Frauenbild verboten werden?

Sicher ist: Wer heute einen solchen Plot schreiben würde, beginge gesellschaftlichen Selbstmord. Kultur ist ein Produkt ihrer Zeit. Wie auch der Kinderheld Kasperli. Würde er in einer Neuerscheinung als Entwicklungshelfer König Krambambuli und dessen «schnusiges Negermeitli» Susu (1970) besuchen, wäre der Skandal mindestens so gross wie 1933, als Hedy Lamarr im Streifen «Ekstase» nackt dem Wasser entstieg und Filmgeschichte schrieb.

Sujet ist zu provokativ

Zwar gab es immer Streit über die Grenzen der Kunstfreiheit – nur scheint die Frage heute komplizierter denn je. Diese Woche wurde ein Entscheid der Migros bekannt, 60 000 Papier­säcke einzustampfen.

Dem Grossverteiler war das Sujet zu provokativ: Das Zürcher Künstlerinnenkollektiv Mickry 3 hatte eine nackte Frau mit Katze entworfen. In der Zentrale fürchtete man Sexismusvorwürfe.

In der Woche zuvor hatte die Migros entschieden, die Schokoküsse der Firma ­Dubler aus den Regalen zu kippen. Trotz der «Black Lives Matter»-Bewegung weigert sich der Chef der Herstellerfirma, auf den umstrittenen Begriff «Mohrenkopf» zu verzichten.

Die Antwort auf die Frage «Darf man das?» wird komplexer, und die Umstände ändern sich immer schneller. 2003 machten die Komiker David Walliams und Matt Lucas Furore: Ihre Show «Little Bri­tain» leuchtet schonungslos die Untiefen menschlicher Schwächen aus. Die treten aber nicht nur bei Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft zutage, sondern auch bei körperlich Behinderten, Homosexuellen, Vorstadtproleten – oder bei Dunkelhäutigen.

Sensibilität des Publikums

Im Zuge von «Black Lives Matter» hat die BBC nun den Stecker gezogen und das Programm aus ihrem Streamingdienst geworfen. Die Macher entschuldigten sich diese Woche dafür, «Charaktere anderer Rassen» und Transvestiten ­gespielt zu haben. Zuvor hatte der bekennende Homosexuelle Matt Lucas in ­einem Interview gesagt, «Little Britain» sei heute aufgrund der neuen Sensibilität des Publikums nicht mehr möglich.

In der Schweiz brachte der Satiriker Viktor Giacobbo (68) mit Kunstfiguren wie Harry Hasler oder Debbie Mötteli in den Neunziger- und Nullerjahren Generationen zum Lachen. Aber auch mit dem vulgären Inder Rajiv oder dem Italiener Gian-Franco Benelli mit seinem schlechten Deutsch.

Wie sieht Giacobbo das heute? Ist seine Persiflage von Minderheiten noch zeitgemäss? «Ich würde diese Figuren heute nicht mehr spielen», sagt er. «Das liegt ganz einfach daran, dass sich die Zeiten und die Umstände geändert haben. Man muss das nicht mit einem grossen gesellschaftstheore­tischen Überbau erklären.» Mittlerweile gebe es auf der Comedy-Bühne ohnehin fast keine Figuren mehr. «Eigentlich schade, denn Rassisten könnte man als Parodie­figuren dort hinstellen, wo sie hingehören: auf den Misthaufen der Geschichte.»

«Sehr geschwätzige Zeit»

Bricht eine neue Kulturrevolution aus, wie Kritiker monieren? «Wir leben gerade in einer sehr aufge­regten, sehr geschwätzigen Zeit», sagt Giacobbo. «Alle haben zu allem eine Meinung, die sie möglichst ­allen vermitteln wollen.»

Den Grund ortet er bei den sozialen Medien. «Ich sage das bewusst als einer, der selber häufig soziale Medien nutzt.» Der Shitstorm – die schwarm­gesteuerte Kritik auf Facebook oder Twitter – gilt als zu vermeidender Worst Case. «Aber der Shitstorm wird überschätzt», sagt Giacobbo. «Das ist meistens ein überschaubarer Kreis von Leuten, die sich an ihren eigenen alternativen Fakten ergötzen. Und zwar in allen Lagern.»

Den Begriff Shitstorm gab es zu Mozarts Zeiten nicht – und wenn, hätte er so etwas nicht für die «Zauberflöte» befürchten müssen, eher schon für seinen «obszönen Kanon in A-Dur». Die heute harmlos ­tönende Zeile «Reck’ den Arsch zum Mund» führte zu einer über hundertjährigen Zensur.

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