Schweizer Regisseur Marc Forster glänzt mit Holocaust-Lehrstück «White Bird»
«Ich konnte diese Enge förmlich spüren»

Was Marc Forster anfasst, wird in Hollywood meist zu Gold. Nach seinem Netflix-Hit «A Man Called Otto» wagt er nun den Spagat – und entführt seine Zuschauer in die Zeit des Holocaust. Ein schwerer Stoff, gewiss, aber ein Film voller Magie.
Publiziert: 06.05.2024 um 11:54 Uhr
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Aktualisiert: 06.05.2024 um 12:03 Uhr
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Mit «White Bird» wagt sich der Schweizer Star-Regisseur Marc Forster erstmals an ein heikles Themenfeld: den Holocaust.
Foto: IMAGO/TT

Es gibt ein Thema, dem sich die Filmwelt nur mit Vorsicht nähert – und immer wieder von einer anderen Seite: der Holocaust. In «Schindlers Liste» zeigte Steven Spielberg (77) schonungslos die Grausamkeit dieses Tiefpunkts der Menschheitsgeschichte, in «La vita è bella» gelang es Roberto Benigni (71), das Leben und Sterben im Konzentrationslager durch die Brille eines Häftlings zu zeigen, der sich seinen Optimismus nicht nehmen lässt. Zuletzt schuf Jonathan Glazer (59) mit der Geschichte des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höss in «The Zone of Interest» ein Meisterwerk. Nun hat sich der Schweizer Filmemacher Marc Forster (55) auf ganz persönliche Art dieser düsteren Epoche angenommen – und wagt ein Novum.

Forster versetzt seine Protagonistin Sara in ein Umfeld, in dem sich die junge Frau von den alltäglichen Vorurteilen gegenüber einem physisch beeinträchtigten Mitschüler emanzipiert – und zugleich ums nackte Überleben kämpft. Damit sie nicht aus dem von Nazis besetzten Frankreich deportiert wird, muss sich der jüdische Teenager verstecken.

Der Regisseur verleiht seinem Werk einen märchenhaften Anstrich, ohne in Kitsch zu verfallen – und ohne die Vernichtung der Juden im Dritten Reich zu verharmlosen. Mit Helen Mirren (78) als grossmütterlicher Erzählerin gibt er dem Film einen zeitgenössischen Hintergrund sowie pädagogischen Sinn.

Dass ihm «White Bird» am Herzen liegt, wird nicht nur dadurch klar, dass sich Forster fast eine Stunde Zeit für das Gespräch mit Blick nimmt. Er streicht dabei heraus, wie gross die Herausforderung für ihn war, das historische Geschehen mit seinen Mitteln zu erzählen. Und nimmt uns mit – zurück in seine Kindheit.

Blick: Marc Forster, wenn man Ihren Film schaut, könnte man meinen, es handle sich um eine leise Aufforderung, unseren Grosseltern noch mehr Gehör zu verschaffen. Würden Sie das so unterschreiben?
Marc Forster:
Ja, schon. Ich bin ein Mensch, der sehr an Mentoren glaubt. Ich habe schon als Kind die Geschichten meiner Grossmutter geliebt – auch die vom Zweiten Weltkrieg. Bei jedem Mensch, der eine gewisse Lebenserfahrung hat, ist immer ein Stück Weisheit dabei, die man mitnehmen kann.

Sie sind also ein guter Zuhörer.
Das ist doch etwas vom Schönsten! Es gibt heutzutage nur noch wenige Menschen, die wirklich zuhören. Wir werden inzwischen von allen Seiten mit einer riesigen Menge an Informationen überflutet. Da hat man oft gar nicht mehr die Kapazität, wirklich zuzuhören.

Vor allem, wenn es um ein Thema wie den Holocaust geht – die letzten Zeitzeugen sterben langsam, aber sicher aus.
Ich habe mit Raquel J. Palacio (60, Autorin der Romanvorlage, Anmerkung d. Redaktion) sehr viel über Antisemitismus gesprochen – ein Thema, das vielen Jugendlichen oft nicht mehr bewusst ist. Ich glaube, diese Art von Erzählung habe ich noch nie gesehen. Es ist eine sehr intime Geschichte, eine Liebesgeschichte.

Wir fanden genau diesen Aspekt sehr gekonnt eingewebt. Wir sind also mitten im Film – die junge Sara muss sich vor den Nazis in einer Scheune verstecken – beklemmend.
Wenn man das Drehbuch liest, spielen wirklich 70 Prozent des Films in diesem Versteck. Und wissen Sie, was das Krasse daran ist?

Erzählen Sie es uns.
Wir haben den Film während Corona gedreht – man durfte nicht raus, ich konnte diese Enge förmlich spüren. Deshalb war es mir besonders wichtig, dass der Zuschauer das nicht so mitbekommt.

... und Sie haben ihn – trotz der Schwere der Materie – in eine Wunderwelt entführt.
Filme wie «White Bird» sind immer eine Gratwanderung. Wann werde ich zum Beispiel zu kitschig? Da kommt es dann sehr stark auf den Schnitt an, auf die Musik. Und auf den Wunsch der Studios. Dennoch habe ich mich gerade für diesen Film auch von meiner eigenen Kindheit inspirieren lassen.

Sie sprechen wieder die Scheune an ...
Richtig. In der Filmwelt sprechen wir von «Magic Realism». Ich bin ja in Davos aufgewachsen, in den Bergen, und wir hatten ein Haus oben im Wald. Ich war oft allein und bin einfach in den Wald gegangen. Wir hatten damals keinen Fernseher. Und da habe ich mich eigentlich immer selbst unterhalten müssen. Ich habe ganze Welten kreiert. Daher rührt meine Inspiration.

Ist das auch ein Schachzug, um einem jungen Publikum eine wichtige Botschaft zu vermitteln?
Gerade jetzt, wo auf der ganzen Welt Krieg herrscht. Es ist mir besonders wichtig, eine solche Geschichte zu erzählen. Ich wollte Jugendlichen ein Verständnis ermöglichen, dass wir den Hass gegen andere Menschen, gegen andere Religionen durchbrechen müssen – gerade der Antisemitismus wird zurzeit wieder stärker. «Durchbrechen wir den Kreislauf der Gewalt!» Das ist die Moral von der Geschichte. Und Personen eine zweite Chance zu geben.

Nicht nur in Bezug auf den Umgang mit Geschichte – sondern auch mit Mobbing – wäre begleitendes Unterrichtsmaterial sehr wichtig. Wie sehen Sie das?
Es wäre schon auch mein Wunsch, einen pädagogischen Diskurs anzustossen. Die junge Generation muss ein Friedensverständnis entwickeln – und darauf bedacht sein, seine Mitmenschen mit Respekt zu behandeln. Dann glaube ich, dass es eine Möglichkeit gibt, dass wir alle miteinander koexistieren können. Und das ist ja eigentlich das Wichtigste. 

«White Bird» läuft ab dem 8. Mai in den Deutschschweizer Kinos

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