Er macht alles mit Herzblut. Zwei Wochen lang war der renommierte Chirurg Thierry Carrel (61) in Usbekistan (Zentralasien) und operierte Kinder am Herz – ohne Geld zu verlangen. Vor dem Rückflug zog in Taschkent ein heftiger Schneesturm auf, der sein Team 24 Stunden lang festhielt. Gestern war er bereits wieder im Zürcher Universitätsspital am Operieren. Dazwischen gab er Blick ein Interview.
Blick: Herr Carrel, Sie waren einer von 80 Schweizer Prominenten, die sich fürs Impfen gegen Corona starkmachten. Warum?
Thierry Carrel: Ich erlebe im Zürcher Universitätsspital und auch im privaten Umfeld, wie heimtückisch Corona sein kann. Es erkranken zum Teil auch junge, gesunde und starke Menschen schwer daran. Sie im Spital liegen zu sehen, erschüttert mich, denn bei vielen wäre die schwere Erkrankung mit einer Impfung zu verhindern gewesen.
Was schmerzt Sie am meisten?
Erkrankte müssen um Luft ringen, und das manchmal über mehrere Wochen. Die Impfung hilft, solche Verläufe zu verhindern. Wir mussten Patientinnen und Patienten immer wieder nach Hause schicken, die dringend eine Herzoperation benötigten, weil kein Bett mehr frei war – auch in den letzten Wochen wieder. Das bedeutet für diese Menschen ein sehr hohes Risiko.
Haben an Corona erkrankte Menschen von der Herzchirurgie profitieren können?
Ja, zum Beispiel von unserer Erfahrung mit Geräten, die der künstlichen Beatmung ausserhalb des Körpers dienen. Das Blut wird dabei für den Gasaustausch in eine Maschine geleitet. Aber wir mussten auch häufig Wahleingriffe absagen und konnten zeitweise nur noch Notfalleingriffe durchführen. Das hat viel Unruhe in die Planung gebracht.
Haben Sie selber erlebt, dass jemand in Ihrem Umfeld an Corona erkrankt ist?
Leider ja, kurz nach Beginn der Pandemie habe ich eine Tante verloren, die bei sonst guter Gesundheit innert Tagen verstorben ist.
Anfang Jahr haben Sie das Berner Inselspital verlassen. Jetzt teilen Sie mit Paul R. Vogt die Leitung der Herzchirurgie am Zürcher Universitätsspital, die vorher unter massiver Kritik stand. Welche Situation haben Sie vorgefunden?
Eine Klinik, die mit wenigen Operationen auf Sparflamme lief, verbleibende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sehr verunsichert waren. Hausärzte und Kardiologen, die das Vertrauen in die Klinik verloren hatten, und eine Forschungsabteilung, die komplett brach lag.
Wie ist die Lage heute?
Wir dürfen mit dem bisher Erreichten sehr zufrieden sein. Aber es gibt noch einiges zu tun, um die Klinik wieder international zu positionieren, so wie sie sich unter Ake Senning und Marko Turina präsentierte.
Wie funktioniert diese Doppelfunktion und wie teilen Sie sich die Arbeit?
Ich verstehe mich mit Paul Vogt sehr gut, mit dem ich in den Neunzigerjahren bereits in Zürich arbeitete. Er kümmert sich als Klinikchef um die Leitung der Klinik. Ich kann heute meine Zeit vermehrt der Nachwuchsförderung widmen und mich auf spezielle oder komplexere Eingriffe konzentrieren. Diese müssen vorher ausführlich im Team besprochen werden. Gerade bei diesen fachlichen Diskussionen gebe ich gerne meine Erfahrung weiter.
Haben Sie Ihren Lebensmittelpunkt in die Limmatstadt verlegt?
Nein, in Zürich habe ich ein kleines «Pikettzimmer», in dem ich bleibe, wenn ich Nacht- oder Wochenenddienst habe. Allerdings ist das relativ häufig der Fall, denn ich will nach den Eingriffen in der Nähe meiner Patienten bleiben, falls sie noch meine Hilfe brauchen sollten.
Kürzlich gab das Berner Symphonieorchester zugunsten von Corelina, Stiftung für das Kinderherz, deren Gründer und Präsident Sie sind, in Bern ein Benefizkonzert. Das war also trotz Corona möglich?
Ja. Impfen ist auch dafür wichtig, dass wir wieder gemeinsam kulturelle Veranstaltungen geniessen können, sei es als Musiker oder als Zuhörer. Die Idee der Bühnen Bern, unserer Stiftung für das Kinderherz ein Konzert zu widmen, geht in die Zeit vor Corona zurück. Ich fand die Idee des Intendanten und die Bereitschaft der Musiker grossartig.
Welche Aufgaben erfüllen Sie für Ihre Kinderherz-Stiftung?
Es ist für mich sehr erfreulich, dass Corelina mit der Eurasia Heart Foundation von Paul Vogt zusammenspannen kann. Letztere hat eine langjährige Erfahrung vor allem in Asien. Gerade komme ich von einer zweiwöchigen Mission in Usbekistan zurück. Dort haben wir in zwei Spitälern in Taschkent und Karschi täglich von früh bis spät operiert. Die Patientinnen und Patienten stehen Schlange, sie sind sehr dankbar dafür, dass wir da sind. Ihre Freude zu sehen, hilft mir beim Durchhalten der strengen Arbeitstage.
Es sind vor allem junge Leute?
Ja, wir widmen uns vor allem Jugendlichen mit einem angeborenen Herzfehler, denen wir mit einer Operation ein gutes Leben ermöglichen können. Ohne Operation würden sie bald sterben. Alle Ärzte und die Pflegefachpersonen arbeiten übrigens ehrenamtlich. Corelina hilft aber auch Schweizer Familien, die in Not geraten, wenn ein herzkrankes Kind hospitalisiert werden muss.
Können Sie alle operieren?
Das wäre ein Traum. Bitter ist: Wir können einigen Kindern helfen, müssen aber immer auch Patientinnen und Patienten unbehandelt zurücklassen. Umso wichtiger ist es, dass die Ärztinnen und Ärzte vor Ort von uns lernen, damit sie weiterhelfen können, wenn wir wieder in der Schweiz sind.
Zurück zu Ihrer Arbeit an der Zürcher Uniklinik: Wie wird sich die Herzchirurgie in den nächsten Jahren entwickeln?
Die Herzchirurgie wird sich im Erwachsenenbereich vor allem auf die schwierigsten und komplexesten Eingriffe konzentrieren, die mit katheter-technischen Methoden nicht machbar sind. Aber auch die Ausbildung künftiger Herzchirurgen bleibt wichtig. Bei der Kinderherzchirurgie überwiegen noch die konventionellen chirurgischen Operationsverfahren, und dies wird eine Weile so bleiben.
Wird es wegen Corona mehr Herztransplantationen geben? Das Virus kann ja auch das Herz befallen.
Es gibt vereinzelte Patienten, die wegen einer Corona-Erkrankung an einer schweren Herzmuskelentzündung erkranken können. Sie muss in der akuten Phase vor allem durch Medikamente und allenfalls mittels Kreislaufpumpen zur Entlastung des Herzes behandelt werden. Die moderne Medizin muss alles unternehmen, um eine Transplantation zu verhindern. Diese bleibt als letzte Therapiemöglichkeit einer kleinen Anzahl von ausgewählten Patienten vorbehalten.
Sie sind sehr engagiert. Bleibt da noch Zeit für Ihre Frau, SRF-Moderatorin Sabine Dahinden?
Selbstverständlich! Was ich anpacke, mache ich mit vollem Einsatz – beruflich und auch privat. Das ist mir sehr wichtig. Dass ich bei allem, was ich tue, konsequent bin, spürt meine Familie genauso wie die mir anvertrauten Patientinnen und Patienten.
Wie und wo finden Sie Entspannung?
Beim Musizieren mit meiner Posaune im Blasorchester La Concordia in Freiburg oder beim Alphornspielen mit Freunden aus Vitznau. Aber auch bei einem guten Glas Wein bei mir zu Hause am Vierwaldstättersee, am liebsten beim Hören einer Mahler- oder Bruckner-Sinfonie. Das sind Leckerbissen für Blechbläser.
Nehmen Sie auf Wanderungen immer noch das Alphorn mit?
In diesem Jahr habe ich ein Versprechen eingelöst: Ich brachte das Alphorn auf eine Alp im Kanton Uri, machte tagsüber eine Wanderung zum Uri Rotstock und gab am Feierabend mit der Älplerin Margrith Infanger für die Gäste auf der Bywald-Alp ein Ständli. Mitten in der wildromantischen Bergwelt zu spielen, war für mich besonders schön.
Welche Bedeutung hat der Tod für einen Spitzenmediziner wie Sie?
Wir sollten den Tod als Vollendung unseres irdischen Daseins betrachten und nicht als Vernichtung unseres Gewissens und unserer Seele. Biologisch können wir den Niedergang unseres Körpers nachweisen, die Vernichtung unserer Seele nicht. Ohne diese Transzendenz würde das Leben für mich keine Sinnhaftigkeit ergeben. Wo bliebe zum Beispiel die ausgleichende Gerechtigkeit für all jene, die nicht wie wir das Glück hatten, in einem reichen, privilegierten Land geboren zu werden?
Ist das Herz für Sie einfach ein Muskel – oder ist es mehr?
Ich habe immer grosse Demut vor der Schöpfung gehegt, das ist kein Geheimnis. Ich habe grosse Bewunderung vor der Schöpfung und kann das Herz als Mediziner als ausgeklügelte Pumpe akzeptieren, aber ich möchte mehr als nur ein paar Muskelzellen darin verstehen.
Was wollen Sie künftigen Chirurgen weitergeben?
Das Wichtigste ist: Kümmert euch um jeden Patienten einzeln, nicht nur bei der Operation, sondern auch in Gesprächen vorher und nachher.
Der Freiburger Thierry Carrel (61) gehört zu den erfahrensten Herzchirurgen der Schweiz. Er hat in diversen Kliniken schon über 12'000 Eingriffe ausgeführt. Seit Anfang Jahr ist er Co-Leiter der Herzchirurgie am Zürcher Universitätsspital. 2014 gründete er Corelina, Stiftung für das Kinderherz, deren Präsident er ist. Sie hilft Kindern und Jugendlichen im Ausland und in der Schweiz. Carrel ist mit SRF-Moderatorin Sabine Dahinden (53) verheiratet. Aus erster Ehe hat er eine Tochter.
Der Freiburger Thierry Carrel (61) gehört zu den erfahrensten Herzchirurgen der Schweiz. Er hat in diversen Kliniken schon über 12'000 Eingriffe ausgeführt. Seit Anfang Jahr ist er Co-Leiter der Herzchirurgie am Zürcher Universitätsspital. 2014 gründete er Corelina, Stiftung für das Kinderherz, deren Präsident er ist. Sie hilft Kindern und Jugendlichen im Ausland und in der Schweiz. Carrel ist mit SRF-Moderatorin Sabine Dahinden (53) verheiratet. Aus erster Ehe hat er eine Tochter.