«Mani Matter ist immer noch ein Inspirationsfeuerwerk»
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Mani-Matter-Biograf schwärmt:«Mani Matter ist immer noch ein Inspirationsfeuerwerk»

50. Todestag
Wieso Mani Matter die Schweiz bis heute prägt

Am 24. November 1972 starb der Berner Liedermacher Mani Matter (†36) bei einem Verkehrsunfall. Wo ist er ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod noch immer lebendig? Eine Spurensuche.
Publiziert: 24.11.2022 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 24.11.2022 um 08:45 Uhr
Daniel Arnet

Für mi sälber mir z'erkläre
Bin i mal mym Stammboum na
Ha vo undre Zweige här e
Chly die Nuss probiert z'verstah
Wär da alles mir verwandt isch
Han i gluegt, us Quelle gschöpft
Numen eine wo bekannt isch
Worde git's: Dä hei si gchöpft
(Mani Matter: «Dr Bärnhard Matter»)


Er ist nur 36 Meter lang, hat eine Höhendifferenz von 3,7 Metern und weist mit zehn Prozent eine grössere Steigung auf als der Gotthardpass im Durchschnitt: der Mani-Matter-Stutz in der Berner Altstadt.

Kurz und steil: Der Mani-Matter-Stutz zwischen Rathaus und St.-Peter-und-Paul-Kirche.
Foto: STEFAN BOHRER

Eingezwängt zwischen Rathaus und St.-Peter-und-Paul-Kirche, hat dieses schmale und steile Strässchen viel gemein mit den berühmten Dialektliedern von Mani Matter (1936–1972): Auch diese sind kurz und haben eine Fallhöhe. Man denke nur an die Chansons «I han es Zündhölzli azündt» oder «Si hei dr Wilhälm Täll ufgfüert» mit ihren Eskalationsstufen. Nach maximal zwei Minuten ist Schluss: Lieder wie ein Witz mit Pointe – und man bleibt mit einem Lächeln zurück.

Wegbereiter für Mundart-Musik

«Ein Stutz ist passend», sagt Wilfried Meichtry (57), der 2013 die erste und bisher einzige Biografie zu Mani Matter veröffentlichte. Meichtry steht unten am Strässchen und schaut hinauf. Auf den Spuren des Berner Troubadours will er uns durch die Gassen der Altstadt führen.

Am 24. November ist es 50 Jahre her, dass Mani Matter bei einem Verkehrsunfall auf der Autobahn ums Leben kam. Erst 36 Jahre alt hinterliess er eine junge, vierköpfige Familie und ein kleines, aber feines Werk, das bis heute als Wegbereiter für Mundart-Musik in der Deutschschweiz gilt. Ohne Matter wären Berner Bands wie Rumpelstilz, Span, Züri West oder Patent Ochsner nicht denkbar.

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Die junge Generation um Lo & Leduc, Greis und Steff La Cheffe ist ebenfalls vom alten Barden angetan. «Mani Matter trug dazu bei, dass die Mundart aus der Ecke der Blumentrögli-Poesie rauskam», sagt Franz Hohler (79). Der Schriftsteller, Kabarettist und Cellist ist in den 1960er-Jahren noch zusammen mit Matter aufgetreten. «Er brachte Mundart als urbane Ausdrucksweise ins Spiel.»

«Does Mani Matter?»

Als Beispiel erwähnt Hohler «Betrachtige über nes Sändwitsch». «Ein alter Mundartdichter hätte nie das englische Wort verwendet und allenfalls von einem ‹Fuschtbrot› gesprochen», sagt er. «Heute wären es vermutlich noch mehr englische Ausdrücke.»

«Does Mani Matter?», heisst ein Song der Basler Band The Bianca Story, den sie 2013 zusammen mit dem Zürcher Elektropop-Pionier Dieter Meier (77) aufnahm. Darin fragen sich die Musiker wortspielerisch, ob Mani mit all seinen Liedern eine Rolle spiele.

«Does Mani Matter?» Die Basler Band The Bianca Story mit Dieter «Yello» Meier.
Foto: Sobli

Spielt Mani noch eine Rolle? Die Frage geht an Wilfried Meichtry, während wir den Mani-Matter-Stutz hochsteigen und in die Altstadt stechen, um aktuellen Spuren des Troubadours in Bern nachzuspüren. Und er zeigt gleich auf das Rathaus, an dem wir vorbeigehen.

Hier im 80-köpfigen Stadtrat, der Legislative von Bern, sitzen sieben Gewählte der Grünen Freien Liste. Entstanden ist sie 1997 aus der Fusion der Freien Liste mit «Das Junge Bern», eine seit den 1950er-Jahren bestehende Mitte-links-Partei, für die Matter und Klaus Schädelin (1918–1987, Autor von «Mein Name ist Eugen») politisierten. Schädelin schaffte es in den Gemeinderat, die Exekutive Berns, der er von 1958 bis 1973 angehörte. Von 1989 bis 1996 sass Matters Witwe Joy (87) für das Junge Bern in der Stadtregierung.

Mit der «Gäng» im Café du Commerce

«Für Mani Matter war die lokale Politik so wichtig wie die europäische Integration der Schweiz», sagt Meichtry. Matter kämpfte für eine pragmatische Politik: Man solle es sich in ihr nicht zu bequem machen. «Im Zentrum standen für ihn die sachliche Diskussion und das Allgemeinwohl, nicht die politische Karriere», so Meichtry weiter.

Ohne Ambitionen, aber nicht ohne Leidenschaft: Matter konnte hitzig debattieren – etwa im Café du Commerce an er Gerechtigkeitsgasse 74. Da traf er sich regelmässig mit seiner «Gäng», einem Dutzend gleichaltriger Freude seit Gymnasialzeit. Das Café ist heute zwar ein spanisches Restaurant, aber drinnen sieht es aus wie anno dazumal: eine helle, getäftelte Holzdecke, währschafte, braune Stühle und hinter der Bar eine alte Werbung für Rössli-Stumpen.

Rössli-Werbung wie damals: Das Café du Commerce an der Gerechtigkeitsgasse.
Foto: STEFAN BOHRER

«Im Café Commerce traf sich die ‹Gäng› jeweils, um über alle mögliche Themen zu diskutieren – auch darüber, welche Filme man sehen muss», sagt Meichtry. Hohler, selber nicht in der «Gäng», erinnert sich an Gespräche mit Matter und sagt: «Er war ein wacher Geist, der sich mit der Welt als Ganzem beschäftigt hatte.» Das habe von der Literatur zu allen Formen von Kunst gereicht – er sei zum Beispiel ein sehr guter Jazzkenner gewesen – von der Politik über die Philosophie bis zur Theologie.

«Matter war nicht religiös, aber er stellte sich die Frage, wie man sein Leben führen muss», sagt Meichtry. Und was das Politische anbelangt, sei er zusehends ernüchtert gewesen. Er diskutierte sehr engagiert und konnte andere Meinungen akzeptieren. «Diese Position ist vertretbar», sagte er dann jeweils und sah im offenen Streit mit Argumenten eine zentrale Errungenschaft der Demokratie. In diesem «Konsens zur Uneinigkeit» sah er die Basis eines gesunden Staates.

«Matter war gerne Jurist»

Recht und Gerechtigkeit: Das sei für den promovierten Juristen Matter eine Einheit gewesen – und Meichtry weist quer über die Gerechtigkeitsgasse: Dort in einem Büro der oberen Etagen arbeitete Matter ab 1969 in der neu geschaffenen Stelle des Rechtskonsulents für die Stadt Bern. Als ein älterer Gast vor dem Café du Commerce hört, von wem wir reden, kommt er ins Schwärmen, als wäre Matter eben erst rüber ins Büro gelaufen.

«Matter war gerne Jurist», sagt Hohler. «Er wollte das Recht auch Nichtjuristen zugänglich machen.» Als erste Amtshandlung wollte Matter alle Verordnungen der Gemeinde in eine übersichtliche Ordnung bringen. Das Ziel: ein verwinkeltes Labyrinth öffentlich zugänglicher machen. «Im Recht gings ihm um die Vereinfachung», so Hohler. «Bei den Liedern machte er manchmal aus etwas Einfachem etwas Kompliziertes.»

Im Keller spielte einst Matter: Biograf Wilfried Meichtry an der Kramgasse.
Foto: STEFAN BOHRER

Wie etwa «Bim Coiffeur» aus seiner ersten EP «I han en Uhr erfunde» von 1966. Ab 1967 gab Matter seine Lieder zusammen mit den Berner Troubadours in den Kellertheatern der Altstadt zum Besten – etwa an der Junkerngasse 37 oder der Kramgasse 6. Während am ersten Ort ein verschlossener, anonymer Abgang hinter einem parkierten Auto versteckt liegt, wird das Kleintheater «Die Rampe» an der Kramgasse 6 heute als Kulturlokal Ono genutzt.

Emil stiess Matters Solokarriere an

Matters Solokarriere begann allerdings nicht in Bern: Sein Freund Emil Steinberger (89) drängte Mani 1971 zu einem abendfüllenden Programm im Kleintheater Luzern. Spätestens von da an wollte die ganze Schweiz den Berner live sehen. «Matter hatte jährlich an die hundert Auftritte – daneben einen vollen Job, einen Lehrauftrag an der Universität und eine Familie», sagt Meichtry. «Das hat ihn sehr gefordert.»

Vielleicht überfordert: Am Abend des 24. November 1972 fährt Matter mit seinem Auto von Bern nach Rapperswil SG zum nächsten Auftritt; Zürich hinter sich, nimmt er die N3 Richtung Chur dem See entlang, um dann über den Seedamm nach Rapperswil abzuzweigen – es ist Viertel nach sieben Uhr abends, bereits dunkel und die Fahrbahn nass.

24. November 1972: Der tödliche Unfall auf der Autobahn N3 bei Kilchberg ZH.
Foto: Blick

Matter nähert sich Kilometer 108,7 bei Kilchberg ZH – da taucht vor ihm ein Lastwagen samt Anhänger auf, der wegen des Anstiegs bloss 40 Kilometer pro Stunde fährt. Matter kann nicht mehr ausweichen, touchiert das linke Hinterrad des Anhängers. Sein Auto schleudert auf die Überholspur, kippt. Zwei weitere Autos rasen in die Unfallstelle, ein drittes erfasst Matters Wagen frontal und schleudert ihn zehn Meter nach vorn – eingeklemmt im Wrack ist der Lenker auf der Stelle tot.

Kein Denkmal, keine Gesamtausgabe, kein Preis

Franz Hohler kommt an diesem Abend in Uetikon am See ZH spät nach Hause. Bloss zwanzig Fahrminuten von Rapperswil entfernt, wollte Mani Matter nach seinem Konzert bei Hohler übernachten – sozusagen als Gegenleistung, denn wenn Hohler einen Auftritt in der Westschweiz hatte, übernachtete er häufig bei den Matters in Bern.

«Als wir nach Hause kamen, sagte die Frau des Veranstalters, dass Mani tödlich verunglückt sei», sagt Hohler. Und nachdenklich fügt er an: «Die, die nicht verunfallen, werden älter, die anderen bleiben jünger – das ist das Verrückte.» Hohler wird nächstes Jahr 80. Der damals sechseinhalb Jahre ältere Matter bleibt immer 36.

«Mani Matter 1936–1972»: Das Familiengrab auf dem Bremgartenfriedhof in Bern.
Foto: STEFAN BOHRER

«Mani Matter 1936–1972»: Ein Grab auf dem Bremgartenfriedhof und ein Stutz in Bern sowie je ein Platz im Geburtsort Herzogenbuchsee BE und im langjährigen Wohnort Wabern BE – das ist alles, was heute an Mani Matter erinnert. Kein Denkmal, keine Gesamtausgabe des Werks, kein Preis, der nach ihm benannt ist. Fehlt da nicht etwas?

Hohler lächelt und sagt süffisant: «Den Preis können Sie ins Leben rufen, dann gibt es ihn.» Im Übrigen habe Matter postum den Tribute Award bei den Swiss Music Awards 2017 erhalten, und 2015 sei zu seinen Ehren eine Briefmarke herausgekommen.

«Mani Matter» brannte – wegen Kurzschluss

«Zudem verkehrt auf der Jura-Route zwischen Genf und St. Gallen der Intercity-Neigezug ICN ‹Mani Matter›», sagt der Zugreisende Hohler. Dass der Speisewagen des ICN am 23. Mai 2002 in Genf ausbrannte, scheint Ironie des Schicksals. Ursache war allerdings ein Kurzschluss, kein Zündhölzli.

«Irgendwie passt es, dass es in Bern bloss einen Mani-Matter-Stutz gibt», sagt Hohler weiter. «Eine kurze Strasse ohne eine einzige Hausnummer.» Mani Matter ist keine Adresse, an der man wohnt – er wohnt in uns. «Er lebt in den Köpfen der Menschen weiter», sagt Meichtry zum Abschluss. «Das haben Sie im Café du Commerce gesehen.»

Es gibt vielleicht wenige Erinnerungsorte für Mani Matter, aber die Menschen erinnern sich an ihn.

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