BLICK trifft Mani Matters Sohn
Ueli hat die Lieder seines Vaters noch nie gehört

Im August wäre der grosse Berner Troubadour Mani Matter 80 Jahre alt geworden. Sein Sohn Ueli ist seit Geburt hörgeschädigt. Über ein stilles Leben im Schatten der Ikone.
Publiziert: 10.07.2016 um 18:57 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 15:39 Uhr
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Manni Matters Sohn Ueli kann die Lieder seines Vaters zwar nicht hören, trotzdem ist «Hemmige» sein Liebstes.
Foto: Siggi Bucher
Cinzia Venafro

Hemmige: Mit diesem berndeutschen Wort verbindet jeder Schweizer sogleich eine Melodie. Das berühmteste Lied von Mani Matter (1936–1972) gehört zum Repertoire aller Primarlehrer. Es verleidet den Schweizern trotzdem nie. Auch Ueli Matter (49), Sohn des grossen Troubadours, bekennt: «Es ist mein Liebstes.»

Doch der Mann mit der schwarz gerahmten Brille, der Halbglatze und der Fliegeruhr am Handgelenk denkt dabei an keine Melodie: Ueli Matters Welt ist still, seitdem er drei Monate zu früh zur Welt kam. Er weiss nicht, wie das Universum klingt, das sein Vater mit träfen Worten und minimalen Gitarren-Akkorden erschuf. Ueli Matter kann Textzeilen wie «Sgit Lüt, die würden alletwäge nie ...» zwar lesen. Doch um sie zu verstehen, muss er jede einzelne übersetzen: «Berner sagen ‹Dir› statt ‹Sie›, das ist schon komisch.» Was viele nicht wissen: Für Hörbehinderte ist Mundart eine Fremdsprache, «darum sollte man mit uns Hochdeutsch sprechen», sagt Matter.

Er litt unter der Bekanntheit von Mani Matter

Es ist ein Mittwochnachmittag Anfang Juli. Kurz vor 16 Uhr parkiert Ueli Matter sein Taxi, endlich hat er Feierabend. Rund 25 Jahre schon chauffiert er Gäste durch die Bundesstadt. Gern hat er Spanier oder Italiener auf der Rückbank, «die reden mit den Händen». Früher klebte am Armaturenbrett ein Hinweis auf sein Handicap. «Den Zettel habe ich weggerissen», sagt Matter. «Ich schämte mich dafür.»

Ein Schild aber darf hängen bleiben: «Mani Matter-Stutz» (Bild links) prangt im Flur seiner Wohnung an der Wand. Daneben Fotos der raren Momente, die Ueli mit seinem Vater erleben durfte. Persönliche Erinnerungen an ihn habe er nur wenige, sagt der Sohn. Er war fünfjährig, als der Liedermacher im November 1972 auf der Autofahrt zu einem Auftritt tödlich verunglückte.

Wie hat sein Vater mit ihm kommuniziert? Hat er gebärdet? Er zieht die Schultern hoch, er weiss es nicht. Eine Tatsache war dem heranwachsenden Buben früh bewusst: Sein Vater war schon ein berühmter Mann, als er so plötzlich verschwand: «Als Kind litt ich darunter», sagt er rückblickend. «Ich bin doch Ueli Matter. Ich bin nicht der Sohn von Mani!»

Selber würde er nie berühmt sein wollen: «In Hollywood müssen sogar die Kinder von Prominenten mit abgedunkelten Autoscheiben herumfahren. Das ist ja schrecklich!»

Mit Hemmungen kämpft er täglich

Ueli Matter zieht es in den Ferien immer wieder in die Welt hinaus. Er war auf Kuba, in Australien, er liebt die USA und verbringt seine Ferien am liebsten segelnd auf dem Meer. Bern verlassen und im Ausland leben kam für den Alleinstehenden aber nie in Frage. Zu wichtig ist ihm die Familie. Mit seinen Schwestern Sibyl (52) und Meret (51) ist er «sehr eng», und Mutter Joy (80), die Ex-Politikerin, ist ihm «eine grosse Stütze».

Das stille Aufwachsen im Schatten der Ikone hat Spuren hinterlassen, Ueli Matters Charakter ein Stück weit geformt. Er sei «zurückhaltend und schüchtern», sagt er. Mit den «Hemmungen», die sein Vater besang, kämpft er täglich.

Besonders schwierig sei der Austausch mit Hörenden. Matter fühlt sich «kommunikationsbehindert». Für intensivere Gespräche wie das mit SonntagsBlick, wünscht er eine Dolmetscherin an seiner Seite.

Auch die Reporterin gewöhnt sich erst nach einer Stunde an Matters «Lautsprache» – an die mittels Aritikulationsorganen wie Kehlkopf, Mund und Zunge erzeugten Worte.

«Mich kann niemand anlügen»

Ueli Matter selbst hört mit den Augen. «Mich kann niemand anlügen», sagt er. «Ich sehe jede Unsicherheit in der Mimik meines Gegenübers.» Das Sprechen in der Öffentlichkeit vermeidet er. «Gewisse Leute nehmen mich nicht für voll, das verletzt.» Der Begriff «taubstumm» macht Matter wütend: «Das ist beleidigend!»

Bei der Integration von Hörgeschädigten hinke die Schweiz weit hinterher, findet Matter. «Nach 400 Bewerbungen habe ich aufgegeben.» Mit 20 Prozent Hörvermögen ist der gelernte Mechaniker nicht IV-berechtigt. «Trotzdem werden wir diskriminiert und vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen.»

Richtig «willkommen» fühlt sich Ueli Matter an der Street Parade. Er hat schon oft daran teilgenommen und einen Tag lang auf den Strassen von Zürich getanzt. Dann ist er nicht der Sohn von Mani und auch nicht der Hörgeschädigte – dann ist Ueli Matter einer unter einer Million an der Street Parade.

«Techno-Musik fühle ich mit allen Sinnen», schwärmt er. «Der Bass, der Rhythmus: Mein Körper spürt alles. Dafür brauche ich keinen Hörsinn. Dann fallen sogar meine Hemmungen. Und ich fühle mich frei!»

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