Die junge Jüdin Stella Goldschlag studiert mit ihrer Swing-Gruppe einen Cole-Porter-Song ein. Der Film ist gerade etwas über 10 Minuten alt. Sie singt: «Sei doch so lieb und stelle dich deinem Schicksal. (…) Komm, wir lassen die Sau raus.» Weiss sie, dass die Zeilen bald zur unheimlichen Realität werden? Tatsächlich fasst Regisseur Kilian Riedhof (52) die Zukunft seiner Protagonistin schon ganz zu Beginn des Films zusammen. Es ist ein genialer Einstieg in einen Film – der in der Folge leider zu viele Schwächen aufweist. Stella Goldschlag, eine berüchtigte Nazi-Kollaborateurin, die als «Greiferin» für die SS Jüdinnen und Juden aufspürte und für den Tod von – je nach Quellenlage – zwischen 600 und 3000 Menschen verantwortlich war, böte Stoff für einen Oscar-Anwärter.
«Stell dich deinem Schicksal», singt die auffallend losgelöste Stella, während einige ihrer jüdischen Bandkollegen schon wissen, welches Unheil sie ereilen wird. «Das wäre das Grösste, was 1928 passieren könnte», säuselt Goldschlag, nachdem sie ihre blauen Augen und ihr blondes Haar selbstgerecht im Spiegel betrachtet hat. Und zu guter Letzt: «Komm, wir lassen die Sau raus.» Begleitet man Schauspielerin Paula Beer (28) aber auf ihre filmische Reise, macht «die Sau rauslassen» bedauerlicherweise Sinn. «Stella. Ein Leben» verkommt zum Spektakel.
Falsche Bilder
Anstatt seine musikalische Prämisse weiterzuführen, überspringt Regisseur Riedhof drei Jahre. Es scheint beinahe, als wolle er die fürchterliche Biografie der Nazi-Kollaborateurin möglichst schnell hinter sich bringen – und die Kamera schwenkt mit seinem Publikum ins Jahr 1943. Die deutsche Wehrmacht kämpft mittlerweile auch an der Ostfront, Stella muss in der Rüstungsfabrik Erich & Graetz Zwangsarbeit leisten. Was sie und ihre Eltern Gerhard und Tony Goldschlag während der für europäische Juden alles entscheidenden Zeit in den ausgesparten Jahren gemacht haben, wissen wir dank der umfassenden Biografie von Schulfreund Peter Wyden (1922–1998), an der sich Riedhof leider nur spärlich orientiert hat. Stattdessen macht er Stella jetzt zu einer unersättlichen Party-Queen, die nach getaner Schufterei den gefährlich roten Lippenstift aufträgt, um in Berlin die Sau rauszulassen. Die Deportation ihres Jugendschatzes Manfred Kübler, mit dem sie kurz verheiratet war, nimmt sie tanzend-gelassen zur Kenntnis.
Riedhof stilisiert Stella zu einer gleichgültigen Sexbombe. Wann sie sich genau dazu entscheidet, ihre biografisch überlieferte Schönheit – so schildert es Wyden in seinem Buch – zu ihrem Vorteil zu nutzen, lässt der Film aus. Dass die Protagonistin dennoch unangenehm selbstgerecht wirkt, liegt an der gross aufspielenden Paula Beer, der wohl talentiertesten Nachwuchsschauspielerin, die das deutsche Kino in letzter Zeit hervorgebracht hat. Bis zu ihrer Festnahme durch die Gestapo, die sie schliesslich von der Passfälscherin zur Denunziantin macht, zielt Riedhof fast ausschliesslich auf Massentauglichkeit und Erotik. Stella Goldschlag, die grosse Verführerin. Stella Goldschlag, die Jüdin, die keine sein will und die gestiefelte SS-Schergen mit ihrem arischen Aussehen und ihrer bisweilen kindlichen Naivität um den Finger wickelt. Hat Riedhof einer brillanten Schauspielerin wie Beer nicht mehr zugetraut? Ist das der Grund, dass die Berlinale den Film 2023 nicht zeigen wollte?
Die «Glamourisierung» des Bösen
«Stella. Ein Leben.» hat aber noch mindestens zwei andere Probleme. Abgesehen davon, dass Riedhof den Steilpass dieses hochproblematischen Stoffs, den die grössten deutschen Filmförderer unterstützt haben, nicht zu einem Traumtor verwirklicht hat, wohnt zumindest der ersten Stunde des Films eine unangenehme «Glamourisierung» des Bösen inne. Stella Goldschlag und ihr Passfälscher-Filou Rolf Isaaksohn (Jannis Niewöhner, 31), der mit ihr das Bett teilt und nach durchzechten Nächten überteuerte gefälschte Pässe verkauft, präsentieren sich als Berliner Version von Bonnie und Clyde.
Szenen wie jene, in denen sie zu Richard Wagners «Walkürenritt» in eine verlassene Bonzen-Villa einbrechen und sich an ihrem Glück besaufen, sind zwar spektakulär anzusehen, verfälschen aber die Boshaftigkeit von Goldschlags Handeln gravierend – und erzeugen beim Zuschauer den Eindruck, als nähme der Film weder den damaligen Ernst der Lage wahr, noch erkenne er, welch grauenhafte Person Stella Goldschlag, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs zur bekennenden Antisemitin wurde, eigentlich war. Doch damit nicht genug.
Falsche Fragen
Auf dem Filmplakat zu «Stella. Ein Leben» stellen die Filmemacher eine Frage, die man so nicht stellen kann: «Was hättest du getan?» Riedhof setzt ein «wir» voraus, dass es in dieser Situation gar nicht gegeben hat. Will heissen: Während der NS-Zeit existierten keine Schicksalsgemeinschaften zwischen zur Kollaboration erpressten Juden wie Stella Goldschlag und arischen Deutschen. Ihr Fall ist ein bedrückendes Einzelschicksal – der Regisseur geht hier fälschlicherweise von einem Opfer-Kollektiv aus.
Es bleibt zu fragen, wer sich als Nächstes an Goldschlags beispielloser Biografie abarbeiten möchte. Wer ihr Leben in gedruckter Form nachverfolgen will, dem kann man lediglich Peter Wydens Biografie «Stella Goldschlag – eine wahre Geschichte» ans Herz legen. Ein Rezensent schreibt dazu: «Das Beeindruckende am Buch von Peter Wyden ist seine Fähigkeit, Einzelschicksale als solche zu erzählen und zu rekonstruieren – und trotzdem die historischen Verläufe und die politischen Kontexte als Ganzes im Blick zu behalten.»