«Was in Israel passiert, ist schlimm, aber es ist kein Holocaust»
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Ivan Lefkovits überlebte KZ:«Was in Israel passiert, ist schlimm, aber es ist kein Holocaust»

Ivan Lefkovits (86) hat zwei Konzentrationslager überlebt
«So hatte ich mir die Hölle vorgestellt»

Als kleiner Junge überlebte Ivan Lefkovits zwei Konzentrationslager. Seither engagiert sich der emeritierte Basler Professor und Immunologe gegen den anschwellenden Antisemitismus. Von der Schweiz erhofft er sich weniger Neutralität.
Publiziert: 17.10.2023 um 20:48 Uhr
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Aktualisiert: 17.10.2023 um 22:17 Uhr
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Der Holocaust-Überlebende Ivan Lefkovits (86) bei der Gedenkfeier zur Auschwitz-Befreiung im Jahr 2020 neben der ehemaligen Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga (63).
Foto: © 2020 Béatrice Devènes
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Lea ErnstRedaktorin Gesellschaft

«Ich habe wirklich gehofft, dass sich so etwas nie wiederholt», sagt der schweizerisch-tschechische Immunologe Ivan Lefkovits (86). Damit meint er die Bilder in den Nachrichten: brutale Morde, Entführungen, unvorstellbares Leid. Der Überfall der Hamas war der blutigste Angriff auf das jüdische Volk seit dem Holocaust vor rund 80 Jahren. 

«Es war ein Schock. Für Juden aus der ganzen Welt war Israel nach dem Zweiten Weltkrieg ein sicherer Hafen», sagt Lefkovits. Er sitzt vor einer Bücherwand, trägt Brille und Jackett. Ab 1969 hat er das Basler Institut für Immunologie aufgebaut, danach arbeitete er unter anderem an der Universität Basel. Als kleiner Junge überlebte er nur knapp zwei Konzentrationslager. 

«So hatte ich mir die Hölle vorgestellt»

«Ich war sieben, als uns die Gestapo in der Ostslowakei verhaftete – unserer Heimat», erinnert sich Lefkovits. Seine Familie wurde ins deutsche KZ Ravensbrück deportiert. Sein älterer Bruder Paul wurde getötet, Ivan und seine Mutter in das KZ Bergen-Belsen überführt. Die Bilder bei der Ankunft haben sich tief in seine Erinnerung eingebrannt: «Die Strassen waren gesäumt von Leichen. Die Körper waren ausgemergelt, praktisch nur noch Skelette.» 

In den hoffnungslos überfüllten Baracken erwarteten Lefkovits und seine Mutter nagender Hunger, Durst, Typhus und die absolute Ausweglosigkeit. «Es wäre untertrieben zu sagen, dass der Tod allgegenwärtig war», sagt der Professor. Er hält einen Moment inne. «Es starben so viele Menschen um uns herum, dass wir in den Kojen inmitten von Leichen schliefen. So hatte ich mir die Hölle vorgestellt.» 

Lefkovits und seine Mutter überlebten knapp – als einzige ihrer Familie. Am 15. April 1945 wurde das KZ Bergen-Belsen befreit. «Erst mit der Zeit wurde uns das wahre Ausmass des Holocausts bewusst», erinnert sich der Professor. «Da waren so viele Leichen, dass sie mit Bulldozern in Massengräber geschoben werden mussten.» Noch heute steht der Bulldozer für ihn sinnbildlich für das Grauen des Holocausts: In sechs Kriegsjahren tötete das NS-Regime rund 6 Millionen Juden. 70’000 von ihnen alleine im KZ Bergen-Belsen. 

Der Kampf gegen das Vergessen

Doch auch nach Kriegsende blieb es gefährlich, jüdisch zu sein. Wie in der Slowakei, in die Lefkovits nach der Befreiung zurückgekehrt war. Antisemitische Motive wurden aufgegriffen, es kam sogar zu Pogromen und Benachteiligung der Juden. Er sagt: «Was für eine Tragödie: Man überlebt den Holocaust, um dann zurück in seinem Land wieder angegriffen zu werden.» 

Viele der Überlebenden setzen sich ihr Leben lang dafür ein, dass so etwas nie wieder geschieht. So auch Lefkovits. Mit dem Projekt «The Last Swiss Holocaust Survivors» der Gamaraal-Stiftung erzählt er in einer internationalen Ausstellung sowie einem Buch gemeinsam mit anderen Überlebenden von seinem Zeitzeugnis. Dazu hält er ehrenamtliche Vorträge an Schulen und Universitäten – zum Beispiel am Mittwochabend, 18. Oktober, um 18.15 Uhr an der Universität Zürich

Die Stiftung Gamaraal

2014 gründete Anita Winter (60) die Stiftung Gamaraal, die Holocaustüberlebende unterstützt und sich im Bereich der Holocausterziehungsarbeit engagiert. 2021 wurde die Stiftung zusammen mit dem Archiv für Zeitgeschichte der ETH-Zürich mit dem Bigler-Preis für hervorragende Projekte im Bereich der Holocaust Education ausgezeichnet.

Im israelischen Kriegsgebiet leistet die Stiftung nun Direkthilfe für Betroffene. «Was vergangenes Wochenende an Grausamkeit geschehen ist, lässt sich kaum in Worte fassen», sagt Winter. Viele Zeitzeugen des Holocausts sind unterdessen alt. Es sei unermesslich wichtig, ihnen zuzuhören: «Gerade sie warnen uns immer wieder eindringlich davor, dass der Weg von der Zivilisation zur Barbarei kurz ist.»

Seit Kriegsbeginn in Israel wurde die Stiftung von einer Welle der Solidarität überwältigt: Von unzähligen Mails über Briefe aus aller Welt bis hin zu Freiwilligen, die etwas beitragen möchten.

2014 gründete Anita Winter (60) die Stiftung Gamaraal, die Holocaustüberlebende unterstützt und sich im Bereich der Holocausterziehungsarbeit engagiert. 2021 wurde die Stiftung zusammen mit dem Archiv für Zeitgeschichte der ETH-Zürich mit dem Bigler-Preis für hervorragende Projekte im Bereich der Holocaust Education ausgezeichnet.

Im israelischen Kriegsgebiet leistet die Stiftung nun Direkthilfe für Betroffene. «Was vergangenes Wochenende an Grausamkeit geschehen ist, lässt sich kaum in Worte fassen», sagt Winter. Viele Zeitzeugen des Holocausts sind unterdessen alt. Es sei unermesslich wichtig, ihnen zuzuhören: «Gerade sie warnen uns immer wieder eindringlich davor, dass der Weg von der Zivilisation zur Barbarei kurz ist.»

Seit Kriegsbeginn in Israel wurde die Stiftung von einer Welle der Solidarität überwältigt: Von unzähligen Mails über Briefe aus aller Welt bis hin zu Freiwilligen, die etwas beitragen möchten.

Trotzdem will er zurück nach Israel

Trotz der Grausamkeit will Lefkovits den Überfall der Hamas nicht mit dem Holocaust vergleichen: «Beides sind fürchterliche Taten, die jedoch für sich alleine stehen sollten.» Zwar glaubt er nicht, dass durch den Krieg mehr Menschen zu Antisemiten werden. «Aber ich befürchte, dass der unterschwellig bestehende Antisemitismus nun wieder zum Vorschein kommt.» 

Von der Schweiz erhofft sich Lefkovits weniger Neutralität. So wie beim Krieg in der Ukraine: «Gegen Ungerechtigkeit sollte man einfach nicht neutral bleiben.» Sobald der Krieg überstanden ist, will er Israel besuchen. Um Solidarität zu zeigen. Aber auch, weil er nach wie vor an einen sicheren Hafen glauben will. 

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