Die Bilder haben Hava Broder* (1928-2022) ihr Leben lang nicht losgelassen: Eine ganze Klasse Schulkinder, von den Nazis getötet und von Balkonen baumelnd. Die von Kriegspest und Hunger ausgemergelten Körper im Warschauer Ghetto, in das Broder und ihre Mutter 1940 gesperrt wurden. Damals war sie zwölf. Dass Broder ihre Jugend überlebt hat, grenzt an ein Wunder.
«Das Böse hat Übermacht erhalten», sagt sie in dem Video, das die Gamaraal Foundation vor ihrem Tod aufgezeichnet hat. In der Aufnahme sitzt die damals 90-Jährige auf ihrem Sofa. Graue Haare, türkisfarbener Pullover. Die letzten Jahre ihres Lebens verbrachte sie in Zürich, weil ihr Sohn in die Schweiz ausgewandert ist.
Geboren wurde Broder in Krakau, Polen. «Es war eine ganz andere Welt damals», sagt sie in der Aufzeichnung über ihre Kindheit. Sie erinnert sich an viele Verwandte: Ihren Vater, Tanten, Grosseltern. «Niemand hätte erwartet, was gekommen ist.» Als Hitlers Truppen 1939 in Polen einmarschieren, flüchten Broder und ihre Mutter nach Warschau. Dort werden sie in das grösste aller Ghettos gesteckt: 450'000 eingepferchte Jüdinnen und Juden, auf engstem Raum und unter furchtbaren Bedingungen.
Zwischen Juli und September 1942 deportierten die deutschen Besatzer mehr als 240'000 von ihnen in das Vernichtungslager Treblinka. Broder und ihre Mutter gelingt die Flucht – durch die Tunnels jüdischer Untergrundkämpfer. Gerade noch rechtzeitig. Nur wenige Monate später, am 19. April 1943 um 6 Uhr morgens, stürmt die SS das Ghetto. Alle verbliebenen Juden sollen getötet, ihr Besitz gesichert, das Gebiet ausgelöscht werden. Doch das Ghetto wehrt sich.
Ein Zeichen für den Widerstand
«Es war der erste Aufstand im besetzten Europa und der grösste jüdische Widerstand überhaupt», weiss Historiker Krzysztof Ruchniewicz (55) von der polnischen Universität Breslau. «Obwohl sie wussten, dass der Kampf aussichtslos war, wollten sie sich nicht widerstandslos ergeben.»
Zu Beginn waren es etwa 500 bis 800 jüdische Kämpferinnen und Kämpfer, doch schon bald weitete sich der Widerstand auf das ganze Ghetto aus. «Damit setzten sie ein unglaubliches Zeichen», sagt Ruchniewicz. Ein Zeichen gegen die Apathie und die Ohnmacht, ein Zeichen für den Wert ihres Lebens. «Wie sie inmitten all dieser Hoffnungslosigkeit den Mut und die Kraft für den Kampf aufgebracht haben, lässt sich heute nur schwer nachvollziehen.»
Fast einen Monat hielt das Ghetto stand. Am 16. Mai 1943 sprengten die Deutschen die Grosse Synagoge. Und machten das Ghetto mitsamt den verbliebenen Jüdinnen und Juden dem Erdboden gleich.
Nach Kriegsende gestaltete sich die Aufarbeitung des Holocausts in Polen kompliziert: «Die Gesellschaft war gespalten, es gab nicht mehr viele Juden in Polen, dazu kam die Frage der Mitschuld», sagt Ruchniewicz. Erst gegen Ende der 80er-Jahre kam es zu öffentlichen Gedenkfeiern. «Heute tragen am Gedenktag viele Polinnen und Polen eine Osterglocke an der Jacke.» Eine Frühlingsblume, zur Erinnerung an den Mut der Aufständischen.
Brücken schlagen gegen den Hass
Weil es in Polen auch nach Kriegsende zu antisemitischen Vorfällen kommt, lässt die Angst Broder nicht los. Sie flieht nach Rumänien, 1948 weiter nach Israel. Der Schock sass tief: «Es hat sehr lange gedauert, bis ich wieder lachen, weinen, normal reagieren konnte», sagt sie im Video.
Die Schweizer Stiftung Gamaraal wurde 2014 von Anita Winter gegründet, setzt sich für die nachhaltige Förderung von Bildung rund um den Holocaust ein und unterstützt Holocaust-Überlebende. In der Ausstellung «The Last Swiss Holocaust Survivors» erzählen Zeitzeugen, die in der Schweiz eine neue Heimat gefunden haben, vom Erlebten. 2023 erschien das gleichnamige Buch im Stämpfli Verlag. Die auch online zugängliche Ausstellung ist Teil der Dauerausstellung Schweizer Geschichte des Landesmuseums.
Die Schweizer Stiftung Gamaraal wurde 2014 von Anita Winter gegründet, setzt sich für die nachhaltige Förderung von Bildung rund um den Holocaust ein und unterstützt Holocaust-Überlebende. In der Ausstellung «The Last Swiss Holocaust Survivors» erzählen Zeitzeugen, die in der Schweiz eine neue Heimat gefunden haben, vom Erlebten. 2023 erschien das gleichnamige Buch im Stämpfli Verlag. Die auch online zugängliche Ausstellung ist Teil der Dauerausstellung Schweizer Geschichte des Landesmuseums.
Ist es möglich, ein solches Grauen zu überwinden? «Ja», findet Broder. Ihr Weg, damit umzugehen, sei unter anderem gewesen, ihre Geschichte zu erzählen. Schon während des Holocausts hätten sich die Jüdinnen und Juden immer wieder gesagt: «Wenn du überlebst, erzähl, was uns angetan wurde.»
Deutschen gegenüber habe Broder später immer versucht, Brücken zu schlagen. «Sonst hört dieser Hass nie auf.» Rachegedanken hielt sie für sinnlos, sie wollte sie lieber umwandeln in etwas Konstruktives. Broder blickt in die Kamera. «Dafür haben wir zu hart gelernt, wozu eine hasserfüllte Welt führt.»
* Name geändert