Jakob Augstein, Sie sind Journalist und Verleger wie Ihr rechtlicher Vater Rudolf Augstein, der Gründer des «Spiegels», und jetzt auch Romancier wie Ihr leiblicher Vater. Wollten Sie Martin Walser mit Ihrem Debütroman «Strömung» etwas beweisen?
Jakob Augstein: Nein, ich fürchte, dafür bin ich schon zu alt. Solche Probleme hat man vielleicht als junger Mann.
Waren Sie als junger Mann gekränkt, dass man Ihnen die wahre Vaterschaft vorenthielt?
Das führt nun weg von unserem Thema – darüber will ich mit Ihnen gar nicht reden.
Nun gut: Augstein war Gründer des «Spiegels», Walser ist einer der grössten lebenden deutschen Schriftsteller – es gibt wenige Menschen, die zwei solche Überväter haben.
Meine Mutter Maria Carlsson war, was die literarische Frage angeht, viel, viel massgeblicher als irgendeiner meiner Väter. Mit meiner Mutter bin ich aufgewachsen, mit meinen Vätern nicht. Und sie hat mir als Übersetzerin den Weg in die Sprache gezeigt. Aber alle reden immer über die Väter – was das Patriarchat angeht, scheinen wir heute nicht viel weiter gekommen zu sein.
«Jakob Augstein, geboren 1967, ist Verleger und Publizist. ‹Strömung› ist sein erster Roman.» So lakonisch steht seine Biografie auf dem Klappentext des eben veröffentlichten Buches. Doch Augstein ist kein derart unbeschriebenes Blatt, nicht irgendein Debütant: Die John-Updike-Übersetzerin Maria Carlsson war mit «Spiegel»-Gründer Rudolf Augstein (1923–2002) liiert, als sie einen Sohn von Schriftsteller Martin Walser erwartete. Erst nach Augsteins Tod erfuhr Jakob von der wahren Vaterschaft und machte diese 2009 publik. Der Diplom-Politologe arbeitete für verschiedene Zeitungen, unter anderem für die «Süddeutsche Zeitung» und «Die Zeit». 2008 erwarb er die Wochenzeitung «der Freitag» und ist bis heute deren Verleger. Augstein mischt sich immer wieder in politische Diskussionen ein und sorgt dann und wann mit israelkritischen Äusserungen für Kontroversen. Er war mit der Lektorin Johanna von Rauch verheiratet, ist Vater dreier Kinder und lebt heute in seiner Geburtsstadt Hamburg und in Berlin.
«Jakob Augstein, geboren 1967, ist Verleger und Publizist. ‹Strömung› ist sein erster Roman.» So lakonisch steht seine Biografie auf dem Klappentext des eben veröffentlichten Buches. Doch Augstein ist kein derart unbeschriebenes Blatt, nicht irgendein Debütant: Die John-Updike-Übersetzerin Maria Carlsson war mit «Spiegel»-Gründer Rudolf Augstein (1923–2002) liiert, als sie einen Sohn von Schriftsteller Martin Walser erwartete. Erst nach Augsteins Tod erfuhr Jakob von der wahren Vaterschaft und machte diese 2009 publik. Der Diplom-Politologe arbeitete für verschiedene Zeitungen, unter anderem für die «Süddeutsche Zeitung» und «Die Zeit». 2008 erwarb er die Wochenzeitung «der Freitag» und ist bis heute deren Verleger. Augstein mischt sich immer wieder in politische Diskussionen ein und sorgt dann und wann mit israelkritischen Äusserungen für Kontroversen. Er war mit der Lektorin Johanna von Rauch verheiratet, ist Vater dreier Kinder und lebt heute in seiner Geburtsstadt Hamburg und in Berlin.
Na, dann frage ich Sie einmal nach Ihren Halbschwestern auf der Walser-Seite: Johanna und Alissa sind gestandene Schriftstellerinnen. Haben Sie sich mit denen vor Ihrem Debüt ausgetauscht?
Ich bin mit ihnen in sehr gutem Kontakt, aber über das Buch habe ich nicht gesprochen. Und Franziska, die älteste der Schwestern, ist keine Schriftstellerin, sondern Schauspielerin.
Genau, und deren Mann, der Schauspieler Edgar Selge, veröffentlichte kürzlich mit «Hast du uns endlich gefunden» auch seinen Debütroman.
Ja, witzig, dass der nun ebenfalls schriftstellerisch tätig ist. Übrigens ist das ein grossartiges Buch! Aber je mehr Menschen in unserer Familie am Schreiben sind, umso weniger reden sie davon, was sie gerade machen.
Warum haben Sie so lange zugewartet, um als Schriftsteller zu starten?
Ich hätte mir das vorher nicht zugetraut. Ich habe ungeheuren Respekt vor einem weissen Blatt Papier und der Abwesenheit eines Abgabetermins – es gibt kein Thema und keinen Zeitdruck, anders als im Journalismus.
Wenn Sie früher gewusst hätten, wer Ihr leiblicher Vater ist, wären Sie dann auch gleich Schriftsteller und nicht erst Journalist geworden?
Sie meinen: Wenn ich Räder hätte, ob ich dann ein Omnibus wäre? Die Frage kann ich Ihnen nicht beantworten, die ist mir zu hypothetisch. Aber ich musste wohl erst den Weg über den Journalismus machen, um hier anzukommen.
Wie meinen Sie das?
Ich habe als feuilletonistischer Beobachter geschrieben, um Wirklichkeit einzufangen und darzustellen. Und da kommt man irgendwann an bestimmte Grenzen. Mein Weg hat mich automatisch aus dem Journalismus hinausgeführt in die Literatur.
Ein Seitenwechsel vom faktenorientierten Journalisten zum Autor von Fiktion birgt die Gefahr der Häme von Kritikern. Keine Angst?
Angst immer – ich bin grundsätzlich ein ängstlicher Mensch. Aber davon lasse ich mich nicht abhalten, denn man kann ja sein Leben nicht danach ausrichten, was andere Menschen von einem erwarten. Auch dafür bin ich inzwischen zu alt. Das sind die Vorteile des Älterwerdens: Man wird freier.
Und welches sind die Nachteile?
Menschen, die bereits mit 20 einen Roman veröffentlichten, hatten viel mehr Zeit, das literarische Schreiben zu üben. Man muss sich klarmachen, dass es etwas anderes ist, Schriftstellerei anstatt Journalismus zu betreiben.
Was macht Schriftstellerei aus?
Das ist ein für mich neues Handwerk, und ich habe viel Respekt vor Handwerk. Kunst kommt dann irgendwann dazu, keine Ahnung. Ich versuche sie jedenfalls nicht anzustreben. Aber Handwerk strebe ich schon an: Dem muss man sich stellen, das kann man erlernen, und das ist mühsame Arbeit.
Wie lange haben Sie an Ihrem Debütroman gearbeitet?
Drei Jahre.
Was war die Initialzündung für das Buch?
Ich habe 2018 mit der «Spiegel»-Online-Kolumne «Im Zweifel links» aufgehört und dann angefangen, am Buch zu arbeiten. Ich hatte früh Thema und Idee einer Figur – der Rest erledigte sich durch Nachdenken, Arbeit und Disziplin.
«Ich bin Franz Xaver Misslinger und ich sage immer, bei mir hört das Scheitern mit dem Namen auf»: Die Hauptfigur Ihres Romans klingt sehr selbstbewusst. An wen haben Sie gedacht?
Man sollte keine lebenden Personen suchen. Das ist kein Schlüsselroman, sondern eine Parabel, ein Märchen. Misslinger ist für mich eine Figur aus dem Geist der 1990er-Jahre, die das westliche Selbstverständnis verkörpert, das mit der Wahl von Donald Trump 2016 zu einem symbolischen Ende gekommen ist.
Inwiefern?
Diese Wahl machte für mich deutlich, dass das kulturelle System, das wir in den letzten dreissig Jahren entwickelt haben, in sich zusammengebrochen ist. Denn wenn es eine Witzfigur wie Trump an die mächtigste Position der Welt bringt, verliert das System seine innere Glaubwürdigkeit.
Misslinger macht mit seiner Tochter eine Reise in die USA, «das Land der Freiheit», und sieht eine Nation im Niedergang. Ist das für Sie also auch Realität?
Ja, unbedingt. Die Wahl von Trump läutet das Ende des Westens ein. Mit Joe Biden ist auch keine Heilung eingetreten. Im Gegenteil: Man sieht, wie die Amerikaner sich immer weiter zerlegen.
Sind wir an einer Zeitenwende?
Ja, aber wir wissen noch nicht, wohin sie führt.
Ins Elend?
Vielleicht. Aber denkt man das nicht immer? Als Misslinger Kind war, war seine Welt geprägt von der Furcht eines grossen Atomkriegs. Das war bei mir ähnlich, da ist der Roman autobiografisch. In Westdeutschland überlegte man sich konkret, wie lange man im Kriegsfall am Wohnort überleben würde.
Wie machte man das?
Da gab es Karten: Fünf Minuten, zehn Minuten, eine Viertelstunde bis zum Strahlentod … Das geht heute häufig vergessen, weil wir uns gar nicht mehr vorstellen können, in dieser Angst zu leben.
Aber gibt es in den letzten Jahren nicht eine Steigerung? Ist die aktuelle Situation nicht krasser?
Was kann krasser sein als die Vorstellung, dass man in fünf Minuten durch einen Atomkrieg verglüht? Klar, heute verglüht der ganze Planet und übermorgen kommt der Asteroid und sprengt alles in die Luft – unsere Ängste wachsen mit unseren Möglichkeiten, oder?
«Strömung» handelt vom Abstieg des westdeutschen Politikers Misslinger und erinnert stark an die BRD-Romane von Walser, in denen es auch oft ums Scheitern geht. Ein Zufall?
Wir haben auch im wiedervereinten Deutschland eine westlich dominierte Kultur – darüber beklagen sich viele Menschen mit ostdeutschen Wurzeln. Das heutige Land unterscheidet sich nicht stark von der alten BRD.
Und das Scheitern?
Scheitern ist ein schwieriges Wort, niemand scheitert ganz, sondern immer nur ein bisschen. Nur mit dem Tod scheitern wir endgültig. Aber es ist für die Leserschaft immer spannender, Figuren beim Misslingen zuzugucken.
Schadenfreude?
Es geht nicht um Schadenfreude, sondern darum, dass sich jede und jeder fragt: Was hätte ich noch mitgemacht? An welchem Punkt wäre ich ausgestiegen? Wo hätte ich selber gemerkt, dass das nicht klappt?
Ein politisches Lehrbuch sozusagen?
Es ist kein Roman über das reale Politgeschehen – das würde mich zu Tode langweilen.
Aber Misslinger ist konkret wirtschaftspolitischer Sprecher der Partei, die stark an die FDP erinnert.
Und deshalb habe ich mir überlegt: Muss ich über Steuern und dergleichen schreiben? Doch da wäre ich schon beim Schreiben eingeschlafen, derart langweilig ist das. Nein, das ist kein politisches Buch.
Sondern?
Ein religiöses Buch. Es geht um den Glauben von Misslinger an die freie Welt, der ihn in die Irre führt. Religion interessiert mich viel mehr als Politik, denn wir glauben alle irgendetwas.
Und Misslinger glaubt an die Machbarkeit von allem.
Ja, er hat dieses männliche, westliche Gefühl: Das gehört jetzt alles mir. Doch das ist vorbei – und das ist gut so, denn das Gefühl war von Anfang an eine Perversion.
Wie meinen Sie das?
Wir sehen jetzt die Grenzen dieser Religion: Die Natur macht nicht mehr mit, die Frauen, die Migranten und die Transgender-Menschen machen auch nicht mehr mit. Alle melden sich und sagen: Hey, ihr komischen alten weissen Männer, ihr habt die Rechnung ohne uns gemacht.
Vor genau 50 Jahren war Rudolf Augstein kurzzeitig für die FDP im Bundestag, als Willy Brandt eine sozialliberale Koalition anführte.
Lustig, dass Sie das erwähnen. Das war eine absurde Episode: Die Vorstellung, ein Journalist könne in die Politik gehen und dort etwas bewirken, ohne seine gesamte Identität zu verändern, ist echt abenteuerlich gewesen.
Sie sind SPD-Mitglied …
… ja, aber ich bin da nur Karteileiche, und bei mir ist es mit der SPD wie mit der katholischen Kirche: Man getraut sich nicht, auszutreten, obwohl man immer nur die Hände über dem Kopf zusammenschlägt.
Freut es Sie nicht, dass die Partei mit Olaf Scholz nach Jahren wieder einmal den deutschen Bundeskanzler stellt?
Sehen Sie, die SPD stellt den Bundeskanzler nicht, weil sie so toll ist, sondern weil sich die CDU so zerlegt hat. Wenn alle verlieren, gibt es trotzdem einen Gewinner: derjenige, der ein bisschen weniger verloren hat als die anderen.
Sie haben ja das Heu nicht immer auf der gleichen Bühne wie Scholz – so 2017, als Sie ihn, damals Erster Bürgermeister Hamburgs, wegen des G-20-Treffens in der Stadt harsch kritisierten.
Ja, Katastrophe! Was für eine Schnapsidee, eine solche Veranstaltung zur Selbstdarstellung mitten in die Stadt zu holen. Das ging dann auch schief, aber das ist an Scholz abgeperlt. Das ist eine Eigenschaft, die man als erfolgreicher Politiker haben muss. Würde mir vollkommen fehlen.
Sie vertreten stattdessen die 24 Prozent Anteile der Familie Augstein am Hamburger Nachrichtenmagazin «Spiegel», das eben sein 75-jähriges Bestehen feiert. Wie sehen Sie die Zukunft des Medienhauses?
Jetzt wieder sehr, sehr gut. Wenn Sie mich das vor fünf Jahren gefragt hätten, wäre meine Antwort «düster» gewesen.
Was ist passiert?
Die Chefredaktion hat den Kulturkampf zwischen Print und Online endlich überwunden. Es ist super, dass es Papier gibt, aber Online ist jetzt schon wichtiger und wird immer wichtiger werden. Mehr ist zu dem Thema nicht zu sagen. «Spiegel Online» ist heute DIE private Nachrichtenquelle in Deutschland.
Zusätzlich sind Sie Verleger der linken Wochenzeitung «der Freitag» und nun auch Romanautor. Welches ist in Zukunft Ihr wichtigstes Standbein?
Ich schreibe in Zukunft Bücher.
Beim «Freitag» sind Sie aber immer noch in der Chefredaktion aufgeführt.
Das ist nur pro forma. De facto müsste ich das einmal ändern.
Woran arbeiten Sie aktuell?
An meinem nächsten Roman.
Nach dem Abgesang auf die FDP nun einer auf die SPD?
Nein, es geht um Liebe.
Jakob Augstein, «Strömung», Aufbau
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