Ein kleines Mädchen steht auf dem Sofa. In seinen Händen hält es einen Teddybären, das Plüschtier wiederum trägt ein ledernes Sadomaso-Geschirr. Auf einem anderen Bild sind deutlich Gerichtsakten aus dem Fall «United States vs. Williams» aus dem Jahr 2008 zu sehen – im Prozess wurde entschieden, dass das Verbot der Verbreitung von Kinderpornografie nicht gegen die Meinungsfreiheit verstosse.
Kurz nachdem Balenciaga unter der Kreativleitung von Demna Gvasalia (41) diese Frühjahrskampagne für das Jahr 2023 lanciert hatte, entbrannte unter den Fans der Marke ein Mode-Protest. In den sozialen Medien zerschnitten sie Kleider und Schuhe. Auf Druck der Öffentlichkeit distanzierten sich die Aushängeschilder der Marke wie Unternehmerin Kim Kardashian (42) oder Model Bella Hadid (26) von Balenciaga: Kardashian wolle ihre künftige Zusammenarbeit überdenken, Hadid löschte Fotos, die für das Label entstanden waren.
Balenciaga entschuldigte sich in einem Statement für die Wahl der Sujets und kündigte an, künftig mit Organisationen zusammenzuspannen, die sich gegen Kindesmissbrauch und Ausbeutung einsetzen. Was die Sichtbarkeit der Akten angeht, schiebt das Label die Schuld jedoch Drittpersonen zu – es stehen angeblich Schadensersatzzahlung in Höhe von rund 24 Millionen Franken im Raum. Bloss: Den Schuldzuweisungen möchte niemand so recht glauben – die Diskussionen in den sozialen Medien haben längst eine Eigendynamik entwickelt und ufern in krude Verschwörungstheorien aus.
Pädophilie und Satanismus
Unter dem Hashtag #Balenciagagate sammeln sich im Internet Menschen, die ungeachtet der Geschmacklosigkeit der Bilder und einer klaren Grenzüberschreitung dämonische Botschaften vermuten. Auch von «Luxusmode für Pädophile» ist die Rede – hauptsächlich festgemacht an den Kinderpornografieakten, die Balenciaga laut eigener Aussage «übersehen» hatte.
Dass nun Userinnen und User die Kampagnen auf Instagram, Tiktok und Twitter nach abwegigen Verkündigungen absuchen, hält Marketingexperte Felix Murbach von der gleichnamigen Agentur (56) für übertrieben. Er sieht darin eine weitere Gefahr der sozialen Medien: «Wenn man will, findet man im Internet für alles einen Beweis.» Daraus liessen sich schnell abstruse Verbindungen spinnen. Hinter der Skandal-Aktion selbst vermutet er jedoch kein Versehen: «Schliesslich ist es immer der Auftraggeber selbst, der absegnet, was veröffentlicht wird», betont Murbach. Balenciaga habe vermutlich die Reaktionen unterschätzt. Das liege vor allem daran, in der Modewelt immer grösser und spektakulärer wirken zu müssen, um sich von der Konkurrenz abzuheben – und gleichzeitig einer Gesellschaft zu begegnen, die bei Themen wie Kindesmissbrauch sensibilisierter sei als früher. Die Schnelllebigkeit der sozialen Medien tue ihr Übriges.
«Grausige Multiplikationskraft der Kardashians»
Der Zürcher Stil-Experte Jeroen (52) van Rooijen kann der Kampagne genauso wenig abgewinnen wie dem Label selbst. Wenn er vom «alten» Balenciaga spricht, dann von der glamourösen Marke des Gründers Cristobal Balenciaga (1895–1972). «Sie stand für Eleganz und einzigartige Schnittmuster, die bis heute modern sind», schwärmt van Rooijen – damit habe sie heute aber nichts mehr zu tun, was vor allem an Kreativdirektor Gvasalia liege: «Balenciaga ist eines der schönsten alten Labels, das von einem ruchlosen Designer ohne Respekt vor der Vergangenheit übelst zugerichtet wurde – wenn Cristobal Balenciaga von den Toten auferstehen könnte, würde er Gvasalia eigenhändig erwürgen», sagt der Experte.
Balenciaga sei an Oberflächlichkeit nicht zu überbieten und preise seine «mittelmässigen Ideen zu absolut skandalösen Preisen an». Van Rooijen bezweifelt überdies, dass die Nachfrage nach Balenciaga wegen des Skandals abreissen werde, was «an der grausigen Multiplikationskraft der Kardashians sowie am Opportunismus des Handels liegt», wie er Blick erklärt. Von Haute Couture könne im Fall von Balenciaga nicht mehr die Rede sein: «Die Kleider werden seriell und wie Konfektion produziert – auch, wenn Balenciaga manchmal so tut, als ob alles noch sorgfältig im Atelier gemacht wird.»
Diesem Marketingkniff sitzen augenscheinlich viele Fussballprofis wie Leroy Sané (26) auf – das französische Luxuslabel Balenciaga gehört heute zur Uniform der Kicker. Möglichst gross muss der Schriftzug sein, die Message dahinter deutet auf Kaufkraft – und Exklusivität. Balenciaga möchte Aushängeschild einer wohlhabenden Elite sein. Das Credo: Auffallen und schockieren, um sich in der Haute Couture zu positionieren. Kein Novum in der Fashion-Welt.
Schon Designer Marc Jacobs (59) und die Marke Miu Miu mussten Kampagnen zurückziehen, weil die Models zu jung und aufreizend waren. Das Label Benetton aus dem mittleren Preissegment liess in den 80er-Jahren Aidskranke und ölverschmierte Enten für seine Klamotten werben und musste Plakate zurückziehen, auf denen sie den Papst und den Imam von Kairo knutschen liess. Nun hat auch Balenciaga mit seiner neusten Kampagne in den Augen vieler eine rote Linie überschritten.