Es ist der 24. Dezember 1993. TV-Moderator Gay Byrne (1934–2019) tritt in der Weihnachtsausgabe seiner «Late Late Show» vors Publikum, das in den Studios des irischen Nationalsenders RTÉ gespannt auf den nächsten Gast wartet: «Nach ihrem letzten Auftritt hat sie gesagt, dass sie heute gern dabei wäre. Wir haben ihr erklärt: ‹Wenn du dich anständig aufführst, können wir vielleicht etwas machen.› Hier ist sie also: Sinéad O'Connor!» Eine junge Frau – sie hat gerade erst ihren 27. Geburtstag gefeiert – betritt die Bühne; eine Erscheinung: die Haare kurz geschoren, Nasenpiercing, wallende Kleider. O'Connor mag äusserlich nicht ins Weihnachtsprogramm passen – zumindest nicht im erzkatholischen Irland. Dann setzt sie ohne Vorrede zu «Danny Boy» an – a cappella, ungekünstelt, mit einer engelhaften, fast kindlichen Chorstimme: «Oh, Danny Boy, [...], du wirst den Ort finden, an dem ich liege. Und niederknien und ein ‹Ave› für mich beten.»
O'Connors Auftritt an diesem Winterabend 1993, ihre persönliche Note eines Lieds, das in Irland traditionellerweise bei katholischen Beerdigungen gesungen wird, wirkt wie eine Entschuldigung – schliesslich musste sie Moderator Byrne ja versichern, sich «anständig aufzuführen». Der Late-Night-Host spielte auf einen der bereits zahlreichen Skandale in der noch jungen Karriere von Sinéad O'Connor an: Am 3. Oktober 1992 zerriss die Irin in der US-Late-Night-Show «Saturday Night Live» vor laufender Kamera ein Bild von Papst Johannes Paul II. (1920–2005). Sie wolle mit der Aktion auf den sexuellen Missbrauch von Kindern durch die katholische Kirche aufmerksam machen – und spürte danach Hass und Häme des Publikums. Die Presse zog sie durch den Dreck, bei einem nachfolgenden Konzert in New York wurde sie ausgebuht. Und am Weihnachtsabend 1993 gab sich Moderator Byrne als grossmütiger TV-Vater der Nation, als wolle er den Irinnen und Iren verkünden: «Hier, mein Kind, kannst du dich von deinen Sünden reinwaschen.» Verstanden hatte auch er nicht, worum es ihr eigentlich ging. Lange verstand sie niemand.
Niemand kannte ihren inneren Kampf
2021 erschienen O'Connors Memoiren «Rememberings» («Erinnerungen»), in denen sie noch einmal auf den Eklat bei «Saturday Night Live» eingeht. Das Bild, das sie 1992 zerrissen hatte, stammt aus dem Schlafzimmer ihrer Mutter – von ihr war sie in ihrer Kindheit misshandelt worden. Das Foto sei die letzte Erinnerung an sie gewesen. Ihre Mutter, 1985 verstorben, wollte sie damit endgültig begraben. Das Trauma ihrer Kindheit sollte O'Connor nie loslassen. Zwar feierte man die Irin weltweit als äusserst talentierte Künstlerin mit einer einzigartigen Stimme, nahm sie aber auch immer als etwas wirr und wankelmütig wahr. Letzteres stimmt zwar durchaus, aber: Bis zuletzt wussten wohl nur die wenigsten, welche Kämpfe O'Connor innerlich ausfocht.
Man kann mitnichten behaupten, Sinéad O'Connor sei eine einfache, eine greifbare Persönlichkeit gewesen. Das kann auch Hanspeter Künzler (67) bestätigen. Der SRF-Musikexperte, der in der britischen Metropole London lebt, traf sie 1987. Damals war O'Connor zarte 21 Jahre alt und präsentierte Journalisten ihr Debüt-Album «The Lion and the Cobra». «Sie war extrem schüchtern, hat sich gleichzeitig aber über die Leute aufgeregt, die ihr mit zu wenig Respekt begegnet sind», erinnert sich Künzler. Das Gespräch mit ihr sei eine brisante Mischung gewesen. «Man wusste nie, wie sie als Nächstes reagiert.» Wenn sich etwas durch O'Connors Leben zog, dann war es laut dem Musikexperten die Unberechenbarkeit: «Einerseits hielt sie sich mit ihren politischen Botschaften nicht zurück. Andererseits hatte sie eine extrem verspielte Natur und war impulsiv.»
Bewusste Provokationen?
Flammenden Reden für die Abschaffung des Abtreibungsgebots in Irland gehörten zu Sinéad O'Connor genauso wie musikalischen Wanderungen zwischen irischem Folk und jamaikanischem Reggae. «Bei vielen Dingen, die sie gemacht hat, hat man sich – zumindest medial – gar keine Mühe gemacht, sie zu verstehen.» Das sei jetzt wieder so ein Witzchen von Sinéad O'Connor, habe es dann jeweils geheissen, meint Künzler. «Die meisten haben ihre Aktionen als bewusste Provokation verstanden.» Zumindest in Irland sei die Musikerin aber sehr geschätzt worden. Vielleicht sogar verstanden. O'Connor meinte es ernst. «The Foggy Dew» gilt als inoffizielle Nationalhymne Irlands. Auf der bekanntesten Version singt Sinéad O'Connor 1995 mit der Folkband The Chieftains vom irischen Unabhängigkeitskampf. Dieses Lied passt gut, um die Geschichte der Sängerin zu Ende zu erzählen: Unabhängigkeit und die Freiheit, die eigene Meinung – auch musikalisch – zu äussern, waren ihr höchstes Gut. Und es passte zu Irland – auch, wenn sie nicht jeder verstanden hat.
Zuletzt kämpft die Irin mit schweren psychischen Problemen, 2022 nimmt sich ihr 17-jähriger Sohn Shane das Leben. Am vergangenen Mittwoch geht bei der Londoner Polizei um 11.18 Uhr ein Notruf ein. Die Beamten finden Sinéad O'Connor bewusstlos vor und erklären sie wenig später für tot. Sie wird nur 56 Jahre alt.