Was Kinder erlitten haben, die durch die palästinensische Terror-Miliz Hamas am 7. Oktober 2023 im Süden Israels entführt wurden, können wir uns nicht vorstellen. Doch wir können mitfühlen und zuhören. In St. Moritz GR hat Blick anlässlich der jährlichen Gala für das interreligiöse Sheba Medical Center bei Tel Aviv, das grösste und wichtigste Spital im Nahen Osten mit Traumatologie-Direktorin Naama de la Fontaine (40) gesprochen. In ihrem Traumacenter werden auch freigelassene Geiselkinder therapiert. Für das aktuelle Projekt «Zurück ins Leben» kam über eine Million Schweizer Franken zusammen.
Blick: Sie therapierten entführte, traumatisierte Kinder, die in der Gewalt der Hamas waren und freikamen. Womit sind Sie konfrontiert?
Naama de la Fontaine: Mit Kindern, die verstummt sind oder nur flüstern. Mit Kindern, die Angst haben, wenn sie Sirenen hören, und mit Kindern, die vor Monaten noch Bilder von Feen zeichneten. Jetzt sind es Monster. Die Kinder müssen sich erst wieder ans Tageslicht gewöhnen, da sie monatelang in dunklen Räumen lebten. Wir haben im Sheba Medical Center ab dem 7. Oktober ein Programm gegründet, das sich auf die Behandlung von Kindern spezialisiert, die in Geiselhaft waren. Natürlich kümmern wir uns auch um ihre Eltern.
Wen behandeln sie sonst noch?
Viele Kinder in Israel, die indirekt vom Krieg betroffen sind. Sie leiden unter grossem Stress, weil sie aus ihrer täglichen Routine gerissen wurden. Viele Familien, die durch den grausamen Kriegsangriff umgehend evakuiert wurden, können nach wie vor nicht nach Hause, weil ihre Häuser durch Bomben zerstört wurden, Gebiete, in denen es auch heute noch gefährlich ist. Sie leben nach wie vor in für sie bereitgestellten Hotels.
Die israelische Ärztin Naama de la Fontaine (40) ist klinische Psychologin und Direktorin der Klinik für Angst und Trauma am Sheba Medical Center bei Tel Aviv, die sie vor drei Jahren aufgebaut hat. Sie ist zudem ausserordentliche Professorin an der Akademie von Tel Aviv-Yaffo. Ihr Arbeits- und Forschungsschwerpunkt liegt auf der angst- und traumabezogenen multidisziplinären Interventionen für Kinder und gefährdete Bevölkerungsgruppen. Mit ihrem Ehemann und zwei gemeinsamen Kindern lebt sie in Tel Aviv.
Die israelische Ärztin Naama de la Fontaine (40) ist klinische Psychologin und Direktorin der Klinik für Angst und Trauma am Sheba Medical Center bei Tel Aviv, die sie vor drei Jahren aufgebaut hat. Sie ist zudem ausserordentliche Professorin an der Akademie von Tel Aviv-Yaffo. Ihr Arbeits- und Forschungsschwerpunkt liegt auf der angst- und traumabezogenen multidisziplinären Interventionen für Kinder und gefährdete Bevölkerungsgruppen. Mit ihrem Ehemann und zwei gemeinsamen Kindern lebt sie in Tel Aviv.
Das Sheba behandelt auch Menschen aus Palästina. Gab es da keine internen Widerstände?
Bei uns gibt es keine Unterschiede. Wir wollen helfen und heilen, unabhängig von Nationalität, Religion und Gender. Bei uns arbeiten 30 Prozent Menschen, die nicht jüdischen Glaubens sind, Muslime und Christen. So gemischt ist unser Personal, und so gemischt sind unsere Patienten, wir haben auch Kinder aus Gaza bei uns, die vor dem 7. Oktober zu uns kamen und nicht zu ihren Familien nach Hause können. Auch sie werden speziell und individuell Trauma therapiert. Selbstverständlich nehmen wir auch Menschen allen Alters aus Gaza auf. Wir nennen das Sheba, Spital des Friedens. Nun ist es unsere spezifische Arbeit, den Kindern den Weg zurück ins Leben zu verhelfen.
Was haben die israelischen Kinder, die bei Ihnen sind, erlebt?
Es gibt einen Jungen, der stark unter schlechtem Gewissen leidet, weil er es in die Freiheit geschafft hat, sein Vater aber nicht. Der ist tot. Ein anderer kleiner Bub gibt sich die Schuld, dass er entführt wurde, weil er so laut geweint hat. Es gibt die Geschichte des Jungen, der mit seiner Mutter auf der Strasse war und ihr entrissen wurde. Einen, der ohne seine Mutter frei kam, was für ihn sehr, sehr schwierig ist. Einige der Kleinen waren im Pyjama, als sie aus ihrem Elternhaus entführt wurden. Wir behandeln Kinder, die auch körperliche Verletzungen aufweisen. Viele wurden auf Mopeds nach Gaza entführt. Durch den Auspuff haben sie Verbrennungen am Bein erlitten. Doch die eigentlichen Verletzungen sind in ihren Seelen.
Wie viele Geiselkinder behandeln Sie im Sheba Medical Center?
32 kamen direkt nach der Freilassung zu uns. Das ist ein Drittel der bis anhin freigelassenen Kinder. Wir haben für sie die Zimmer so eingerichtet, dass sie im Licht gedimmt sind und ihrem Alter entsprechen. Ein vierjähriges fühlt sich mit anderen Sachen wohl als ein zwölfjähriges Kind. Wir arbeiten eng mit ihren Eltern zusammen, dass sie persönliche Gegenstände mitbringen, die den Kindern wichtig sind. Unser Ziel ist es, dass sie schnellstmöglich wieder nach Hause gehen, um ein möglichst normales Leben leben zu können.
Wie lange müssen die Kinder bleiben?
Dies geschieht immer auf Wunsch der Kinder. Wir stellen dabei sicher, dass sie körperlich gesund genug sind. Wir bleiben im engen Kontakt mit ihnen, ihren Familien und Bezugspersonen, die wir begleiten und therapeutisch beraten. Einige der Kinder konnten nach zwei Tagen nach Hause, bei anderen dauert es Monate. Der seelische Genesungsprozess wird Jahre dauern. Es gibt eine aktuelle Studie der israelischen pädiatrischen Vereinigung, die besagt, dass vier von fünf Kindern in ganz Israel seit dem 7. Oktober emotionale Schmerzen empfinden. Wir sind mit posttraumatischen Belastungsstörungen, Stress, Hypervigilanz, also erhöhte Wachsamkeit und entsprechenden Problemen konfrontiert, dass sie ängstlich sind und grosse Schwierigkeiten haben, sich zu entspannen. Wir sehen das ganze Spektrum menschlicher Emotionen. Wir sehen uns als Brücke nach der Entführung zurück zu ihren Familien.
Wieso ist die ganze Bevölkerung in Israel betroffen?
Ja, man darf nicht vergessen, dass wir ein Volk sind, das sehr eng miteinander verbunden ist, religionsunabhängig. Fast jede und jeder kennt jemanden aus dem nahen oder entfernteren Umfeld, der entführt, gestorben ist oder freikam.
Wie läuft eine Traumatherapie ab?
Wir stellen keine Fragen, wir sind da und hören zu. Wir vermitteln Optimismus und Hoffnung, geben Wärme und Menschlichkeit. Wir haben dafür ein Team, das spezialisiert ist auf die Traumabewältigung. Wir sehen auch die unglaubliche Kraft der Kinder und ihren Familien, die zum Teil immer noch dafür kämpfen müssen, ihre Liebsten zurückzuholen. Am 8. Oktober haben sich viele Menschen in Israel mit Kleidern, Lebensmitteln und Spielsachen im ganzen Land auf den Weg gemacht, um diese zu verteilen.
Wie können Sie inmitten des Kriegs Hoffnung vermitteln?
Indem wir immer noch hier sind und hier bleiben werden. Wir sind ein Volk, das schon durch viele Traumata gehen musste. Unser Ansatz ist, eine Lichtung aus Optimismus aufzubauen und nicht in der Dunkelheit zu kämpfen. Durch Geduld, Anteilnahme und therapeutischem Wissen, wieder Vertrauen zu schöpfen. Wir bieten auch Trainings für Familien und Gemeinschaften an. Die Kinder erleben Hoffnung, wenn sie zu uns kommen.
Für Ihr Programm «Zurück ins Leben» wurde an der Sheba-Gala in St. Moritz über eine Million Schweizer Franken gesammelt. Was passiert damit genau?
Wir investieren weiter in Aus- und Weiterbildung unserer Traumaklinik und dem Therapiepersonal. Dann gibt es auch körperlich Verletzte, die oft mehrere Operationen, Prothesen und Therapien brauchen. Ich bin sicher, dass einige von ihnen wieder den Marathon laufen werden, auch mit einer Prothese. Dafür stehe ich mit meinem Team ein. Es ist eine lange Reise, damit seelische Wunden und körperliche Schmerzen heilen werden.
Wie ist aktuell das Leben in Tel Aviv?
Es ist viel ruhiger, fast still. Es gibt viele Dinge, die triggern, wie die heulenden Sirenen, bis zu jemandem hinter dir hustet. Die Strassen und Restaurants sind voller Frauen, weil die Männer vom Militär eingezogen wurden. Wir sind eine Nation, die immer noch kämpft, um die Rückkehr seiner Brüder und Schwestern. Als symbolisches Zeichen der Einheit wehen überall im Land Flaggen. Gefühle von Schmerz, Enttäuschung, bei einigen auch Rache sind noch stark da. Doch wir sind auch ein Volk, das das Leben liebt. Nun erleben wir Tage, an denen sich Schmerz und Optimismus abwechseln.
Wie blicken Sie in die Zukunft?
Am Ende des Tages werden wir überleben. Wir gingen durch den Holocaust, wir gehen durch den Hamas-Krieg. Wir werden die Städte wieder aufbauen, das Gemüse wird wieder angebaut und es wird wachsen. Israel ist ein wundervolles Land, doch es wird Zeit brauchen, um die Gesellschaft wieder zu heilen. Ich bin sicher, nächstes Jahr werden wir wieder tanzen und singen.