Auf einen Blick
Die Eheschliessungen geschehen zu Hause oder in einer Moschee. Imame und auch Prediger ohne Ausbildung gehen privat zu den Familien oder vermählen die Paare anderswo mit einem Ritual. Obwohl es in der Schweiz verboten ist, vor der zivilen Trauung religiös zu heiraten – hier gilt das Primat der Zivilhochzeit –, verbreitet sich die illegale Praxis. Besonders problematisch ist sie, wenn Minderjährige betroffen sind, die unter Zwang vermählt werden.
Dies war allein im Kanton Zürich in den letzten Wochen mehrmals der Fall. Die nationale Fachstelle Zwangsheirat hat beispielsweise Kenntnis von einer Heirat einer 14-Jährigen, die kürzlich mit einem doppelt so alten Mann getraut wurde. Ein Imam verheiratete das Mädchen, das ursprünglich mit ihrer Familie aus einem Kriegsland in die Schweiz geflüchtet war, bei ihr zu Hause. Den Widerstand der Tochter gegen die Heirat bestraft ihr Vater mit Schlägen.
Weil sich die Braut gegen sexuellen Kontakt mit ihrem Mann wehrt und sich nach der religiösen Eheschliessung einem Schulsozialarbeiter anvertraut, schaltet sich die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde ein und bringt sie in eine Schutzeinrichtung.
Ehemann macht sich strafbar
Eine andere illegale Trauung – ebenfalls in der Region Zürich – betraf laut der Fachstelle Zwangsheirat eine 14-jährige Jugendliche kurdischer Herkunft. Für die religiöse Heirat mit einem sieben Jahre älteren Mann engagierte ihr Vater einen Freund; dieser ist nicht Imam, verfügt lediglich über Arabischkenntnisse.
Sie sei von ihren Eltern darauf hingewiesen worden, dass sich in der Hochzeitsnacht herausstellen werde, ob sie noch Jungfrau sei. Andernfalls würde sie der Familie Schande zufügen, schildert das Mädchen später den Fachleuten, bei denen sie Hilfe sucht.
Anu Sivaganesan, die Präsidentin der Fachstelle Zwangsheirat, weist darauf hin, dass diese Trauung nicht nur das Primat der zivilen Eheschliessung verletze und illegalerweise eine 14-Jährige betreffe, sondern dass sich auch der deutlich ältere Ehemann strafbar gemacht habe, falls er mit der Braut im Schutzalter sexuell verkehrt habe.
Schwieriger Nachweis
Die Entwicklung, dass zusehends Minderjährige mit religiösen Zeremonien vermählt werden, beunruhigt Sivaganesan. Die Ehen seien zwar nicht gültig, weil zum einen unter 18-Jährige nicht heiraten dürften und zum anderen vor der religiösen die zivile Hochzeit erfolgen müsse. Trotzdem ergäben sich erhebliche Schwierigkeiten: «Die illegalen religiösen Heiraten werden in kleinen Kreisen vollzogen, und es erfährt niemand davon, falls sich keine Beteiligten daran stören», sagt Sivaganesan. Zudem seien die nach Gesetz nichtigen Ehen für die Familien oft bindend. «Für sie gilt das Versprechen, und die Braut kann es häufig nur auflösen, indem sie mit Eltern, Geschwistern und Verwandten bricht.» Der Druck sei deshalb immens. Kinder würden nach alter Tradition dem von der Familie auserwählten Mann anvertraut.
Zwei weitere Fälle aus dem Kanton Zürich, mit der die Fachstelle kürzlich konfrontiert wurde, entsprechen diesem Muster. So wehren sich zwei einst in Bürgerkriegsländern verheiratete junge Frauen gegen die Ehen mit Verwandten. Nach der Flucht in die Schweiz kehrten sie Mann und Familie den Rücken und suchten Schutz in einem Frauenhaus. Mit der Konsequenz, dass die Angehörigen die Frauen verstossen und mit ihnen gebrochen hätten, sagt Sivaganesan.
Eine Meldung pro Tag
Jeder vierte Fall, den die Fachstelle Zwangsheirat betreut, betrifft laut Sivaganesan eine religiöse Trauung oder eine traditionelle rituelle Vermählung. Tendenz steigend. Ein Teil der Kinder- und Zwangsheiraten findet bereits im Herkunftsland der Paare statt. Jedes Jahr gehen bei der zuständigen Fachstelle rund 350 Meldungen von Zwangsheiraten ein, durchschnittlich also täglich eine.
In rund 40 Prozent der Fälle geht es um Trauungen von Minderjährigen. Die meisten Betroffenen kamen als Asylsuchende in die Schweiz und stammen aus Syrien, Afghanistan, dem Irak, der Türkei, Eritrea, Sri Lanka, Nordmazedonien und dem Kosovo.
Seit Anfang Jahr sieht das Strafgesetz vor, dass nicht mehr nur zivile, sondern auch Zwangstrauungen geahndet werden können. Davon verspricht sich Sivaganesan eine abschreckende Wirkung. Glaubensgemeinschaften würden künftig weniger leichtfertig mit religiösen Ritualen unzulässige Ehen einleiten.
Unwissentlich oder mit Absicht
Trotz der Anpassung im Gesetz: Zu ahnden sind die illegalen Trauungen praktisch nur, falls sich Betroffene wehren und an Aussenstehende wenden. Sivaganesan fordert, dass Imame, Priester und andere religiöse Würdenträger für das Thema sensibilisiert werden. Die Fachstelle werde zudem einen Fokus darauf legen. Jene, die in Unkenntnis des Primats der Zivilheirat illegale religiöse Trauungen durchführten, seien mit Aufklärungsarbeit davon abzuhalten.
Sivaganesan räumt allerdings ein, dass religiöse Zeremonien einigen Gruppen dazu dienen, Minderjährige ihrem von der Familie auserwählten Mann zu versprechen und sie Jahre später zu verheiraten. «Wenn dies bewusst und bekannt wird, soll es strafrechtliche Folgen haben.» Es brauche eine verstärkte Kontrolle der Imame, Priester und Prediger sowie der Institutionen, für die sie tätig seien, sagt Sivaganesan.
Die Zivilstandsämter, die Paare trauen, werden nur in seltenen Fällen darauf aufmerksam, wenn die Eheleute bereits religiös verheiratet wurden. Einerseits weisen diese meist nicht darauf hin, andererseits existieren häufig keine Dokumente dazu. Diese Umstände führen dazu, dass Minderjährigen- und Zwangsheiraten schwierig zu erkennen und sanktionieren sind. So gab es schweizweit seit 2013, seit das Bundesgesetz gegen Zwangsheiraten in Kraft getreten war, lediglich zehn Verurteilungen im Zusammenhang mit unfreiwilligen Ehen.