9. Mai 2009. Das Datum hat sich Latife Arab (44) eingeprägt. An dem Tag stieg sie auf die Brüstung einer Bahnbrücke, hob ein Bein nach dem anderen über das Gitter und hielt sich am Geländer fest. Sie schaute nach unten, sah die Züge unter ihr hindurch donnern. Sie dachte daran, wie sie direkt im Höllenfeuer landen würde, so wie es der Koran für Selbstmörderinnen vorsieht. Es war ihr egal. Sie ertrug es nicht mehr: die kriminellen Geschäfte, die Schläge, die Vergewaltigungen, die Drohungen, all das, was ihre Grossfamilie und ihr Ehemann ihr angetan hatten. Von der Brüstung wollte sie springen – und tat es doch nicht. Wegen der Kinder.
An diesem Tag, mit 28 Jahren, nahm sie ihre Töchter und ihren Sohn und flüchtete ins Frauenhaus. Ihr siebter Anlauf. Und ihr letzter.
Latife Arab heisst anders, der Kunstname soll sie schützen. Sie ist in eine Grossfamilie aus der Türkei hineingeboren. In einen verbrecherischen Zweig, der sich im Westen Deutschlands festgesetzt hat.
Seit Jahren kämpft das Land mit einer ganz bestimmten Sorte von Kriminalität: jener von Clan-Mitgliedern. Diese Clans sind oft arabisch-türkische Grossfamilien mit teils mehreren Tausend Mitgliedern. Einzelne Mitglieder haben in Berlin, Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen Parallelgesellschaften aufgebaut. Ihre genaue Zahl bleibt im Dunkeln. Genauso wie das, was sie betreiben: Drogenhandel, Glücksspiel, Waffengeschäfte, Schutzgelderpressung und Geldwäsche. Oft genug kommen sie davon, weil sich eingeschüchterte Zeugen vor Gericht plötzlich an nichts mehr erinnern können und auch Polizisten und Richter Angst haben.
Das Risiko: Ehrenmord
Latife Arab ist die erste Frau aus einer solchen Familie, die öffentlich spricht. Gerade ist ihre Geschichte als Buch «Ein Leben zählt nichts – als Frau im arabischen Clan» erschienen. Uns gibt sie in einem schriftlichen Interview Einblick. Und der Politikwissenschaftler Mahmoud Jaraba, der sich als einer von wenigen Forschern mit deutschen Clans beschäftigt, ordnet dies für uns ein.
Fest steht: Latife Arab bringt sich in Gefahr. Sie rechnet damit, von ihrer Familie erkannt und verfolgt zu werden. Weil sie diese verlassen, deren Ehre verletzt hat. 2008 fand die Polizei eine ihrer Cousinen erschossen an einer deutschen Autobahnraststätte. Ein Ehrenmord, so die Vermutung. Latife Arab nimmt das Risiko auf sich. Lange genug sei es ihr als Frau verboten gewesen, ihre Meinung zu äussern. Sie sagt: «Ich will nicht mehr schweigen.» Auch wegen der vielen Menschen aus solchen Familien, die litten, so wie sie einst.
Dieser Leidensweg beginnt 1985 in Deutschland. Ihre Eltern stammen wie viele der deutschen Clans aus dem Südosten der Türkei, wohin sie in den Siebzigerjahren aus dem Libanon vor dem Krieg geflüchtet waren. In Deutschland fingen Mutter, Vater und ihre vier Kinder (am Ende waren es neun) in einer Flüchtlingsbaracke bei null an. Ohne Arbeitserlaubnis, ohne Asyl. Der Vater begann, mit gestohlenen Autos zu handeln, schleuste bald Menschen aus dem Ausland illegal nach Deutschland, später kamen Drogengeschäfte und Raubüberfälle dazu.
Für Mahmoud Jaraba vom Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa (EZIRE) ist das symptomatisch. Er sagt: «Diese Community war in Deutschland jahrelang nicht willkommen.» Manche hätten über zwanzig Jahre einen Ausländerstatus gehabt. Die Kinder seien meist nicht in die Schule gegangen, weil der Staat sie nicht dazu verpflichtete und die Schulen sich oft geweigert hätten, sie zu unterrichten. «All das befeuerte die familienbasierte Kriminalität», sagt er. Die erste Generation fing während der Achtzigerjahre mit Drogenhandel an, die folgenden Generationen professionalisierten die Geschäfte. «Sie wollten schnelles Geld.»
Schon als Kind kriminell
Die Eltern von Latife Arab zogen sie früh in ihre Geschäfte hinein. Auf dem Küchentisch stapelten sie Geldbündel. Der Vater trichterte den Kindern ein: Wenn die Polizei durch die eine Tür kommt, haut ihr durch die andere ab. Mit zehn führte sie ihren ersten Auftrag aus. Die Eltern klebten Geldbündel an ihre Hände, die sie in die Jackentasche stecken musste, und fuhren mit ihr an eine Übergabe. Sie sagt: «Meine Kindheit war damit vorbei.»
Das neue Leben in Deutschland hatte auch Auswirkungen auf das Familiengefüge. Für ihren Vater sei in der Heimat der Respekt, den die Familie dort genossen hatte, immer das Wichtigste gewesen, schreibt sie im Buch. Nun habe er Angst gehabt, seine Macht als Mann in diesem neuen System zu verlieren. Er wurde immer religiöser. Und er schlug die Mutter, beide schlugen wiederum die Kinder, mit der Faust, dem Schuh, dem Nudelholz. Weil sie angeblich zu wenig beteten, das Kopftuch nicht sass oder die Töchter nicht sofort den Raum verliessen, sobald ein Mann eintrat.
Latife Arab hinterfragte all das lange nicht. Für die Mädchen und Frauen, sagt sie, existiere ausserhalb der Familie kaum etwas. «Die Männer kontrollieren jeden Schritt.» Die Brüder begleiten ihre Schwestern zum Einkaufen. Sagen ihnen vor grossen Festen, mit wem sie sprechen, neben wem sie sitzen dürfen. Und die Eltern, wen sie zu heiraten haben.
Arab bekam mit 18 einen Ehemann: den Sohn der Tante ihrer Mutter. Sie sagt: «Mit einer Hochzeit wechselst du zur Schwiegerfamilie wie eine Ware, die den Besitzer wechselt.» Fortan lebte sie wie eine Arbeitssklavin, kochte, putzte, bediente die ganze Familie – und diese verachtete und schlug sie. Am brutalsten war ihr Mann. Aus der Ehe entstanden drei Kinder. Ayla, Amir und Dunya. Das sei die Erwartung an eine Frau in solchen Strukturen, sagt sie: Viele Kinder gebären, um die Macht der Familie zu erhalten. Und das kriminelle System stützen.
Der Forscher Mahmoud Jaraba hat dazu im März eine Studie veröffentlicht. Er hat mit 18 Frauen aus verschiedenen arabischen Clans mit Wurzeln in der Türkei Interviews geführt. Er sagt: «Frauen innerhalb krimineller Strukturen spielen eine entscheidende Rolle dabei, dass die Kriminalität über Generationen weitergegeben wird.» Die Mütter bereiten die Kinder auf die Kriminalität vor. Spornen diese an. Jaraba weiss von einer Mutter, die ihre Söhne dazu angestiftet hat, sich den verbrecherischen Cousins in den Niederlanden anzuschliessen. Sie kamen später ins Gefängnis.
So schaffte sie den Ausstieg
Bei Latife Arab machte es klick, als ihre Grossmutter starb. Die einzige Person, die ihr Liebe gegeben hatte. Die junge Frau flog deswegen in die Türkei, reiste ins Dorf, aus dem sie herkommt. Auf den Feldern sah sie Mädchen Kühe hüten, blickte in lauter unglückliche Gesichter. Im Flugzeug zurück nach Deutschland beschloss sie: Ihre Kinder sollten eine Chance haben. Sie wollte aussteigen. Doch das war erst der Anfang. Immer wieder flüchtete sie ins Frauenhaus, und die Familie holte sie zurück. Bis zu jenem Tag im Mai 2009. Sie schaffte den Ausstieg dank deutschen Helfern und setzte Stück für Stück ihr Leben neu zusammen. Mit einem deutschen Mann. Daraus entstand Frederik, ihr viertes Kind. Heute lebt sie in Berlin.
Ein Happy End gibt es trotzdem nicht. Dafür sorgt die Familie. Noch 2015 überwältigte ein Mann Arab von hinten, zerrte sie in ein Waldstück und schlug sie bewusstlos. Nackt, vergewaltigt und schwer verletzt kam sie wieder zu sich. Den Täter fand man nie. Sie glaubt, ihre Familie steckt dahinter. Sie sagt: «Mir ist bewusst, dass ich nie sicher sein werde.» Doch sie habe gelernt, die Gefahr zu akzeptieren.
Was ihr bleibe, sagt sie, sei die Freiheit, durch das Buch selbst über ihre Geschichte zu bestimmen: «Diese lasse ich mir nicht nehmen.»
Latife Arab: Ein Leben zählt nichts – als Frau im arabischen Clan. Heyne, München 2024. 33.90 Franken