Wenn Jan-Egbert Sturm (51) sagt, die Schweiz habe einen solchen Schock noch nie erlebt, als er betont, dass die Finanzkrise im Gegensatz zu den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie ein «Klacks» war, lässt dies aufhorchen.
Die angekündigten Entlassungen bei Gate Gourmet oder Schindler, aber auch bei kleineren Unternehmen zeigen, dass die finanziellen Polster aufgebraucht sind», analysiert der ETH-Professor und Leiter der Konjunkturforschungsstelle (KOF).
Ganze Lieferketten zusammengebrochen
Auf die Schweiz rollt eine gewaltige Entlassungswelle zu. Sie trifft beinahe alle Branchen. «Das Gastgewerbe, der Tourismus, der Export, der Detailhandel, ja ganze Lieferketten sind zusammengebrochen», sagt Sturm.
So erstaunt es kaum, dass kürzlich flugnahe Betriebe wie Gate Gourmet den Abbau von 350 Stellen ankündigten oder bei SR Technics am Standort Zürich 400 Arbeitsplätze gestrichen werden. Ähnlich ist die Situation in der produzierenden Industrie: Schindler streicht weltweit 2000 Jobs. Sulzer kündigte an, 55 Stellen abzubauen.
Hart trifft es auch die Textilbranche: Die Glarner Traditionsbetriebe Jenny Fabrics und Mitlödi Textildruck mussten schliessen. Die Leinenweberei Bern trennte sich bereits Ende Mai von 40 Angestellten. Das Dilemma: «Auch vor der Krise haben Menschen ihre Jobs verloren, doch schnell wieder eine Anstellung gefunden», sagt Ökonom Sturm. Das sei heute anders. Weil alle Branchen unter der Pandemie litten, werde die Langzeitarbeitslosigkeit zunehmen.
RAV schafft 200 Stellen
Ende Juni waren 150'289 Personen bei den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) als arbeitslos gemeldet. Damit kletterte ihre Zahl gegenüber der gleichen Vorjahresperiode um 53'067 Personen. Um den Ansturm von Stellensuchenden zu bewältigen, haben die Arbeitsvermittlungszentren in den letzten Monaten schweizweit insgesamt über 200 Stellen geschaffen.
Fabian Maienfisch, Sprecher beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), sagt: «Trotz verbreiteten Einsatzes von Kurzarbeit führte die Corona-Krise zu einem für die Schweiz historisch einmalig raschen Anstieg der Arbeitslosigkeit.» Mit 1,9 Millionen bewilligten Gesuchen hatte die Kurzarbeit im April einen Rekordstand erreicht. Betroffen waren zeitweilig rund 37 Prozent der Erwerbstätigen.
Junge und Ausländer besonders betroffen
Wie in den vergangenen Krisen leiden besonders junge Menschen und Ausländer unter der wirtschaftlichen Baisse: Fast jeder fünfte Lehrling, der unter normalen Umständen im Betrieb weiterbeschäftigt würde, könnte dazu gezwungen sein, seinen Arbeitsplatz zu räumen, wie aus einem Bericht der ETH Zürich hervorgeht.
Für Ausländer betrug die Arbeitslosenquote Ende Februar saisonbereinigt vier Prozent. Seitdem stieg sie auf 6,1 Punkte. Der Grund: Ausländer arbeiten primär in den von der Pandemie stark betroffenen Branchen wie dem Gast- oder dem Baugewerbe. «Bei einem derart tief greifenden Wirtschaftseinbruch können weitere Arbeitsplatzverluste wohl nicht vermieden werden», konstatiert auch UBS-Schweiz-Chefökonom Daniel Kalt (50).
Die Seco-Ökonomen rechnen für das Jahr 2020 aktuell mit einer durchschnittlichen Arbeitslosenquote von 3,8 Prozent. Kommendes Jahr soll sie sogar auf 4,1 Prozent klettern – vorausgesetzt, es gibt keinen zweiten Lockdown und die Schweizer Wirtschaft erholt sich kontinuierlich.
Doch das ist längst nicht in allen Branchen der Fall: «Der Einbruch in tourismusnahen Bereichen wie der Luftfahrt und den Reisebüros, aber auch im Unterhaltungssektor war drastisch, und die Erholung lässt grösstenteils auf sich warten», sagt Seco-Sprecher Maienfisch.
Erfolg hängt vom Ausland ab
Die Krise hat allein beim Bund Mehrausgaben von geschätzten 30 Milliarden Franken verursacht. Hinzu kommen über 40 Milliarden in Form von Krediten. Ein historisches Hilfspaket, das die Schweiz so noch nie gesehen hat. Reicht das? «Sofern wir mit der schrittweisen Öffnung der Wirtschaft weiterfahren können, braucht es keine weiteren, substanziellen Stützungsmassnahmen mehr», so UBS-Ökonom Kalt.
Doch die Schweiz ist keine Insel: Die Genesung der hiesigen Wirtschaft hängt stark vom Ausland ab. Zwei von fünf Franken verdienen heimische Unternehmen ennet der Grenze. Stottert der globale Wirtschaftsmotor, drückt das auch auf die Konjunktur einer exportorientierten Nation wie der Schweiz.
Gerade für die Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie sind die inländischen Konjunkturpakete lediglich ein Tropfen auf den heissen Stein. Die Branche exportiert rund 80 Prozent ihrer Ware. Hauptabsatzmarkt ist die Europäische Union.
Doch genau für die Länder der Eurozone geht der Internationale Währungsfonds (IWF) für 2020 von einem dramatischen Wirtschaftseinbruch von 10,2 Prozent aus. Keine gute Nachricht für den Schweizer Arbeitsmarkt.