Unter seinem rechten Auge klafft eine Wunde, im Fell klebt eingetrocknetes Blut. Das Bild des verletzten Hirtenhundes Fly löst Bestürzung und Mitleid aus. Wer das Tier so übel zugerichtet hat, war für den Bauernverband schnell klar: ein Wolf auf der Alp Halde, wo Fly als Herdenschutzhund diente.
Bereits in den Tagen und Wochen zuvor hatte das Raubtier mehrere Schafe gerissen. In der Einladung zur Medienkonferenz am «Tatort» in den Flumserbergen schrieben die Bauern denn auch: «Eine neue Eskalationsstufe im Umgang mit den Wölfen in der Schweiz wurde mit dem Angriff auf den Herdenschutzhund Fly erreicht.»
Doch hat sich alles in jener Nacht tatsächlich so zugetragen, wie (auch im Blick) berichtet wurde?
Simon Meier, Abteilungsleiter Jagd beim Kanton St. Gallen, betrachtet das Geschehen aus neutraler Perspektive. «Die Verletzungen können tatsächlich durch einen Wolf entstanden sein», sagt er. Es sei aber auch nicht auszuschliessen, dass sich Fly seine Wunden beim Kampf um die Rangordnung mit seinen Artgenossen zugezogen habe. «Die Bisse könnten also auch von einem anderen Herdenschutzhund stammen.»
Ob es nun ein Hund oder eben doch der Wolf gewesen ist, werde man nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen können. Auf eine DNA-Analyse, wie man sie standardmässig nach Nutztierrissen durchführt, sei verzichtet worden. «Diese Tests führen selten zu Ergebnissen, wenn sie an lebenden Tieren gesammelt werden und zu viel Interpretationsspielraum bieten», sagt Meier. Wenn die Analyse etwa auf einen Hund als Angreifer hingewiesen hätte, wüsste man nicht, ob es sich um DNA des verletzten oder eines anderen Hundes handelt. An der Praxis änderte sich zudem nichts: «Rechtlich können wir keinen Wolf schiessen, weil er einen Herdenschutzhund auf einer Alp verletzt.»
Keine Blessuren, keine Kampfspuren
Überrascht von den Aussagen des Kantonsangestellten zeigt sich Martin Keller, Präsident des St. Gallischen Schafzuchtverbandes. «Alles deutet ziemlich klar auf einen Wolf hin, vielleicht sogar auf zwei.» Er arbeite seit 15 Jahren mit Herdenschutzhunden und habe in dieser Zeit einige Rangordnungskämpfe unter Hunden beobachten können. Niemals werde dabei ein Tier so schwer verletzt wie Fly, dem seit dem Angriff drei Zehen fehlen. Gegen die These spreche überdies, dass keinem der anderen Schutzhunde etwas anzusehen war. Keine Blessuren, keine Kampfspuren. «So einseitig verlaufen diese Streitigkeiten um die Hierarchie im Rudel nie.»
Und noch ein Argument führt Keller gegen die Rangordnungsthese ins Feld: Als er zur Verstärkung zwei weitere Herdenschutzhunde in die Flumserberge schickte, passierte gar nichts. Keiner der Hunde machte Anstalten, dominantes Verhalten gegenüber den Neuen zu zeigen. Er bilde Hunde aus, arbeite auf der Alp mit ihnen, sagt Martin Keller, deshalb traue er sich ein Urteil zu: «Nach dem, was ich gesehen habe, ist es für mich ausgeschlossen, dass ein anderer Hund Fly so schwer verletzt haben könnte.»
«Freche Behauptung»
Auch Hirt Markus Eberle (24), der Fly damals blutüberströmt gefunden hatte, berichtet von Harmonie unter den Hunden: «Es gab nie Konflikte, weder beim Hüten auf der Weide noch beim Fressen.» Er kenne sich mit Hunden sehr gut aus, sagt Eberle. Und er wisse, was er erlebt habe auf der Alp Halde: viele Risse, und fast täglich tappte ein Wolf in die Fotofalle. «Es ist schon ein wenig frech, jetzt zu behaupten, es sei kein Wolf gewesen.»