Der oberste Protestant, Gottfried Locher (53), soll seine Macht missbraucht sowie psychische und sexuelle «Grenzverletzungen» gegenüber Frauen begangen haben. Gut drei Wochen, nachdem die Anschuldigungen publik wurden, trat der Präsident der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS) per sofort zurück.
Seitdem ist in der reformierten Kirche der Teufel los. Immer mehr Details des Skandals werden öffentlich. Eine externe Untersuchung ist gerade erst eingeleitet worden. Die Rede ist aber schon heute von der grössten Krise, in der sich die Schweizer Reformierten je befunden haben.
Mutmassliches Opfer reichte Beschwerde ein
Alles ins Rollen gebracht hat die Beschwerde einer ehemaligen Mitarbeiterin des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds, der Vorgängerorganisation der EKS. Die Frau wandte sich laut einem Bericht der Geschäftsprüfungskommission (GPK), der BLICK vorliegt, vergangenen November an Lochers Vize Esther Gaillard (62). In einem mehrstündigen Gespräch schilderte die Frau, was ihr Locher vor knapp zehn Jahren angetan haben soll.
In der Folge wurde EKS-Ratsmitglied Sabine Brändlin (46) eingeschaltet, die für die Prävention sexueller Übergriffe in der Kirche zuständig ist. Der Rat ist das Exekutivorgan der EKS, welches Locher bis vor kurzem präsidierte. Im Gegensatz zum Präsidenten üben die weiteren sechs Mitglieder des Rats ihre Posten nebenamtlich aus.
«Intime Liaison» kam ans Licht
Brisant daran: Brändlin hatte bis im vergangenen Oktober eine Affäre mit Locher. Das wusste damals aber niemand. Sogar als Brändlin im April zurücktrat, wurde der Mantel des Schweigens darübergebreitet.
Erst die Synode vergangene Woche brachte Licht ins Dunkel: Ein Ratsmitglied machte die «intime Liaison» vor dem versammelten Kirchenparlament publik.
Doch die private Verbindung ist nicht der einzige Grund für Brändlins Rücktritt. Sie ging auch, weil sie wollte, dass Locher angesichts der Vorwürfe umgehend suspendiert wird. Doch ihre Kolleginnen und Kollegen wollten diese Konsequenz nicht ziehen. Das schildert der Aargauer Kirchenpräsident Christoph Weber-Berg (56) in einem Brief, den er vor wenigen Tagen an alle Mitglieder der Synode verschickte. Auch dieses Dokument liegt BLICK vor.
Die «Locher-Girls»
Weber-Berg ist Brändlins ehemaliger Chef. Er macht der heutigen Kirchenführung schwere Vorwürfe: Sie habe sich von Lochers Anwältin einschüchtern lassen. Bereits an der ersten Sitzung am Ostermontag, an der die Beschwerde zur Sprache kam, tauchte Locher mit dieser Anwältin an seiner Seite auf. Auch Lochers Frau war dabei, als er eine persönliche Erklärung verlas. Er wehrte sich mit Händen und Füssen gegen eine Suspendierung. Dabei haben sich unterdessen sechs weitere Frauen bei der EKS gemeldet, die Locher ebenfalls beschuldigen.
In der Kirche war es laut mehreren Quellen ein offenes Geheimnis, dass Locher aussereheliche Beziehungen geführt habe. Böse Zungen bezeichneten die Frauen als «Locher-Girls». Auch die Frau, die schliesslich Beschwerde einreichte, soll die Grenzverletzungen im Rahmen einer Affäre erlebt haben. Was genau geschehen sein soll, darüber schweigen bis heute alle Eingeweihten eisern. Klar ist inzwischen: Auch eine Strafanzeige stand im Raum. Bislang entschied sich die Frau aber dagegen, die Polizei einzuschalten.
Locher drohte mit Klage
Der Aargauer Pfarrer Weber-Berg wirft der Kirchenspitze nun vor, das Verhältnis Brändlins mit Locher in den Fokus zu rücken und so «von den eigentlichen Problemen abzulenken». Zu BLICK sagt er: «Mein Eindruck ist: Dem Rat fehlt es an Problembewusstsein.»
Locher bezeichnet die Beschwerde gegen ihn indes als «Teil einer inszenierten Intrige». Er spricht von einem «Tribunal». Und versuchte, die Veröffentlichung der Vorwürfe gegen ihn zu stoppen – indem er mit Klage wegen Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte drohte. Das geht aus dem GPK-Bericht hervor, der sich auf mehrere Anhörungen der Beteiligten stützt.
Trotz seines unkooperativen Verhaltens hat Locher eine Abfindung erstritten. Über die Höhe schweigen sich die Parteien aus. Sie liege aber laut GPK «deutlich unter dem, was bis zum Ende der Amtszeit geflossen wäre». Noch vor zwei Jahren verdiente Locher brutto rund 220'000 Franken pro Jahr.
Kirchenkrise verursacht «immense Kosten»
Der Bericht der Geschäftsprüfungskommission untermauert: Der Fall ist zu einem Kirchenskandal angewachsen. Die Rede ist von einem «massiven Vertrauensverlust» innerhalb des Rates, von «internen Blockaden» – und von «immensen Kosten», die der Streit zwischen Locher und der Kirche verursacht.
Auf mindestens 200'000 Franken beziffert die GPK die Auslagen, die allein bis Ende Mai angefallen sind. Die Schlussrechnung dürfte noch viel höher ausfallen. Ein grosser Posten: die externe Untersuchung, mit der eine Zürcher Anwaltskanzlei beauftragt worden ist. Sie soll noch dieses Jahr abgeschlossen werden. Es sind Kosten, die am Ende zu einem Teil die zwei Millionen Reformierten im Land durch die Kirchensteuern berappen.
Wohl auch angesichts dessen möchte die Kirchenführung möglichst viel unter dem Deckel halten – und zur Tagesordnung übergehen. In einer Medienmitteilung, welche die EKS am Freitag verschickte, teilt sie mit, nach den «Klärungen an der Synode» wieder die ordentlichen Geschäfte und Traktanden in den Mittelpunkt zu stellen. Geklärt ist allerdings noch gar nichts.