Einen Tag bevor die Kirchen im Land nach über zwei Monaten Corona-Lockdown wieder Gottesdienste abhalten dürfen, kam es am Mittwoch bei den Reformierten zum Knall. Gottfried Locher (53), Präsident der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS), trat per sofort zurück. Er war während neun Jahren oberster Reformierter im Land.
Der Hintergrund des abrupten Abgangs ist nebulös. Es gibt angeblich ernst zu nehmende Hinweise darauf, dass Locher «Grenzverletzungen» begangen habe. Ein solcher Hinweis ist der Abgang einer weiteren ranghohen Reformierten im April. Kirchenratsmitglied Sabine Brändlin (46) war für die Prävention von Grenzverletzungen und sexuellen Übergriffen im Gremium zuständig. Nun ist sie weg. Über die Gründe dafür schweigen beide Parteien eisern.
Sein Frauenbild sorgte für Empörung
Was genau passiert ist, darüber wird innerhalb der Kirche wild spekuliert. Laut dem «Tages-Anzeiger» soll es einen Vorfall mit einer ehemaligen Mitarbeiterin Lochers gegeben haben. Diese hat Mitte April über ihre Anwältin bei der Kirche Beschwerde eingereicht. Brändlin habe diese angeblich bearbeiten müssen, sei dabei aber auf grossen Widerstand gestossen – weshalb sie schliesslich ging. Locher hatte in der Vergangenheit bereits mehrmals mit höchst umstrittenen Aussagen über Frauen für Schlagzeilen gesorgt. So wird er beispielsweise in einem Buch mit der Aussage zitiert, dass befriedigte Männer «friedlichere Männer» seien. «Darum sage ich, wir sollten den Prostituierten dankbar sein.»
Die reformierte Kirche gibt auf Anfrage von BLICK nun bekannt, dass es bei der Beschwerde um einen Vorfall gehe, der fast zehn Jahre zurückliege. Ein Strafverfahren laufe nicht. Die Kirche hat nun aber eine Anwaltskanzlei beauftragt, eine externe Untersuchung durchzuführen. «Wir wollen völlige Klärung», so EKS-Sprecherin Katharina Dunigan.
Vorwurf, die Kirche spiele auf Zeit
An diesem Willen sind in den vergangenen Wochen allerdings Zweifel aufgekommen. Zuerst wollte die EKS nur eine interne Untersuchung durchführen. Und das auch nur auf Druck mehrerer Kantonalkirchen. Diese hatten kritisiert, dass die fehlenden Informationen zu Spekulationen und einem Reputationsschaden führen würden.
Die Kirche kündigte daraufhin an, Antworten zu liefern – und zwar im Juni 2021. Pfarrerinnen und Pfarrer schüttelten ungläubig den Kopf. Zwölf von ihnen, darunter bekannte Theologinnen wie die ehemalige Fernsehpfarrerin Sibylle Forrer (39), wandten sich in einem offenen Brief an die EKS. Sie warfen ihr vor, auf Zeit zu spielen und eine unabhängige Untersuchung zu umgehen.
«Man sollte vor der Wahrheit keine Angst haben»
Nun ermitteln also Rechtsanwälte. Doch die Öffentlichkeit weiss noch immer nichts. Mitte Juni tagt das Parlament der Reformierten das nächste Mal. Die Pfarrer hoffen, dass dann endlich Klarheit geschaffen wird.
Michel Müller (56), Kirchenratspräsident des Kantons Zürich, ist ernüchtert. Dass ein Funktionär Fehler mache, könne passieren. «Dann muss man es aber angehen.» Er sei sich nicht sicher, ob die EKS ohne den Druck der Kantonalkirchen gehandelt hätte. «Dabei sollte man vor der Wahrheit keine Angst haben – sondern vor der Verschleierung.»