Der moosbewachsene Stein, in den der stille Seufzer eingemeisselt ist, befindet sich ausgangs des Weilers Fontana im Bavonatal: «Jesus Maria, hier war schönes Land.» Ein Mahnmal für ein Unglück, das sich 1594 an exakt dieser Stelle ereignet haben muss.
Heute, 430 Jahre später, riecht die Luft wieder nach feuchter Erde und Verwesung. Lorenzo Dalessi (31) steht auf aufgesprungenem Asphalt, also auf dem, was von der Strasse übrig geblieben ist, und sagt: «Vor einer Woche hat sich die Geschichte wiederholt.»
Dalessi, weiter unten im Tal in Cavergno aufgewachsen, ist seit einem Monat Präsident der gemeinnützigen Stiftung Valle Bavona. Wie alle hier ist er sich heftige Gewitter gewöhnt. Letzten Samstag aber, nach dem Fussballturnier im benachbarten Lavizzaratal, war etwas anders. Der violette Fleck über seiner Heimat, den das Radar der Wetter-App gegen Mitternacht anzeigte, bewegte sich kaum. Stundenlang blieb er am gleichen Ort.
Eine neue Welt
Das Unwetter, das in dieser Nacht über dem Maggiatal tobte, formte eine neue Welt. Die Wassermassen und die Steine, die von den steilen Wänden in die Tiefe stürzten, veränderten die Topografie wohl für immer. Und sie brachten Tod und Zerstörung. Im verwüsteten Rustico, in dem drei deutsche Touristinnen ums Leben kamen, hängen noch – sorgfältig aufgereiht im aufgerissenen Kleiderschrank – bunte Kleidungsstücke.
Das Ausmass der Katastrophe verschlägt auch Lorenzo Dalessi die Sprache. Es sei unglaublich, welche Kräfte die Natur freisetzen könne, sagt er. Neben einem Felsbrocken von der Grösse eines Einfamilienhauses, der vorher noch nicht da lag, verrottet eine verdreckte Matratze im Geröll, unter dem geknickten Ortsschild ein Autowrack. Und irgendwo im Schutt leuchtet die weisse Seite eines Hefts mit Kreuzworträtseln. Als die Welt noch in Ordnung war, wusste jemand sämtliche Antworten: Poetischer Vers? Reim.
Jetzt stellt sich die Frage: Wie weiter? «Wer hier sein Leben verbracht hat, wird bleiben», sagt Dalessi. Auch in der schlimmsten Stunde ist Aufgeben für die Bewohnerinnen und Bewohner in den vom Schicksal herausgeforderten Tälern keine Option. Es wird aufgeräumt, im Brunnen fliesst wieder Wasser.
Fast trotzig wirkt ein Paar, das den Freitagnachmittag in einem der unversehrt gebliebenen Gebäude auf der Terrasse verbringt. Jemand sagt: «Wer, wenn nicht ich, soll sich um das Haus kümmern?» Wenig später folgt die Aufforderung der Behörden, das Tal zu verlassen. Für das Wochenende sind abermals heftige Regenfälle prognostiziert. Das Tessin kommt nicht zur Ruhe.
Ein eigenartiges Grollen
In Cevio, wo die wütenden Wasser die Visletto-Brücke zum Einsturz brachten und den Ort zwischenzeitlich ganz von der Aussenwelt isolierten, praktiziert seit über 40 Jahren Dottore Marco Poncini, der einzige Hausarzt im oberen Maggiatal. In der Nacht des Unwetters hörte er keine Donnerschläge, sondern ein kontinuierliches, eigenartiges Grollen, das zwei bis drei Stunden lang andauerte. «Es war ganz anders als ein normales Gewitter», erinnert sich der 75-Jährige in seinem Sprechzimmer, in dem Kinderzeichnungen und ein Bild von Jesus an den Wänden hängen.
Um 3.30 Uhr sei der Strom ausgefallen, sagt Poncini, Mobilfunk- und Festnetz brachen zusammen. Eine halbe Stunde später landete der erste Rega-Helikopter gegenüber seiner Praxis auf dem Schulhausplatz und tauchte mit seinen grellen Scheinwerfern den sonst stockfinsteren Ort in ein gespenstiges Licht. Poncini, der keinen Schlaf fand, dachte zunächst an einen schlimmen Unfall. Dann klopfte ein Feuerwehrmann an seine Tür: «Bist du bereit?»
Notfälle musste er in dieser Nacht nicht betreuen, doch seither kommen Patientinnen und Patienten zu ihm, um über das Erlebte zu berichten. Er lasse sie dann einfach erzählen, sagt Poncini, das sei das Wichtigste. «Es verschafft Erleichterung.»
Es sind Menschen, denen sich die Bilder des Erdrutschs in Fontana ins Gedächtnis eingebrannt haben, das Chaos, das die Schlammmassen angerichtet haben im Bavona- und im Lavizzaratal, wo unter anderem eine Eishalle zerstört wurde. Und es kommen Menschen zu ihm, deren Existenzen jetzt bedroht sind. Der Bauer aus Bosco Gurin etwa, dessen Wiesen gemäht werden müssten, der aber keinen Zugang zu seiner Maschine hat, die unten in Riveo steht, unerreichbar nach dem Einsturz der Visletto-Brücke.
Eine verschworene Gemeinschaft
Die Leute im Maggiatal bilden eine verschworene Gemeinschaft. Man kennt sich, und fast alle kennen nun jemanden, der beim Unglück ums Leben kam oder noch vermisst wird. Von einem Freund Martino Giovanettinas (63), mit dem der Wirt und Journalist als Kind Tischfussball gespielt hatte, fehlt nach wie vor jede Spur.
Eigentlich sollte Giovanettina jetzt mit seiner Frau Sara (62) im Bavonatal sein, die Familie betreibt in Foroglio seit Jahrzehnten das Restaurant La Froda. Immer von April bis Oktober, an sieben Tagen die Woche. Doch der Erdrutsch hat das Tal zugeschüttet, die Angestellten haben die Kühlschränke ausgeräumt – die Saison ist gelaufen.
Am Freitagnachmittag sitzt Giovanettina am Tisch seines Hauses in Cavergno. Der Name kommt von Cà d'inverno, Winterhaus. Das Bavonatal, in dem nur mit Holz und Gas geheizt werden kann, mieden die Menschen in den kalten Monaten schon seit jeher. Nur im Frühling trieben die Bauern ihr Vieh auf die Maiensässe und danach auf die Alp.
Teile dieses wertvollen und spärlich vorhandenen Landes wurden von der Wucht der Gerölllawine weggerissen oder zugedeckt. Das Gelände, das seit Menschengedenken in Bewegung ist, wurde über Nacht auf brutalste Weise umgestaltet. Ganze Wälder wurden aufgefressen, der Fluss verläuft jetzt komplett anders. Wäre die kleine Steinbrücke bei Fontana nicht zerstört worden, stünde sie seit einer Woche am falschen Ort.
«Der Erdrutsch macht etwas mit den Menschen und der Landschaft», sagt Giovanettina, «beide sind danach nicht mehr die gleichen.» Seine fünfjährige Nichte werde in dieser «neuen Welt» aufwachsen. Die Alten im Tal werden sich mit der neuen Situation abfinden, ihre Leben weiterführen – mit der Gewissheit, dass das nächste schreckliche Ereignis eintreffen wird, früher oder später, weil es immer schon so war.
Wie weiter?
Die Giovanettinas stehen vor dem Nichts. Gerade kam per Brief die Absage der Versicherung. Zwar sind die Löhne der fünf Angestellten gesichert, das Wirtepaar bekommt jedoch keinen Rappen. Das Restaurant sei von der Katastrophe nicht betroffen, schreibt die Versicherung aus Bern, ein Betrieb sei möglich. Doch wie sollen Gäste nach Foroglio kommen, jetzt, da dieser gewaltige Erdrutsch das Tal versperrt?
Am Tag vor der Katastrophe feierten die Giovanettinas Vernissage einer Skulpturen-Ausstellung in Foroglio. Nun sieht niemand die Kunstwerke, die Familie bleibt auf ihren Investitionen sitzen. Freunde aus der ganzen Schweiz haben eine Sammelaktion gestartet. Das La Froda, das mehr ist als ein übliches Grotto mit Polenta und Merlot, das in den letzten Jahrzehnten zu einem kulturellen Fix- und Treffpunkt im Tessin geworden ist, soll in dieser Form weiterbestehen.
Verkaufen kommt nicht infrage. «Wir würden einen Teil unserer Identität verlieren», sagt Sara Giovanettina. Und ihr Mann ergänzt: «Wir haben keine Angst, vor Hunger zu sterben. Wir haben Angst, dass aus dem La Froda etwas anderes wird.» Sie hätten überlebt, das sei das Wichtigste, sagen sie beide. Jetzt sei Zeit, zu trauern, danach müsse es weitergehen – irgendwie.
Licht und Schatten
In Locarno grillieren sie am Freitagabend an der Uferpromenade auf grossen Rosten Würste und Steaks. Eine Coverband spielt Heavy Metal aus den 80er-Jahren, fröhliche Menschen flanieren vorbei. An diesem Wochenende findet ein grosses Festival statt.
Über dem See kreist derweil ein Helikopter der Armee. Immer noch werden Menschen vermisst, die mutmasslich Opfer des Unwetters geworden sind. Im Wasser treibt Schwemmholz aus dem Maggiatal. Die Gitarrenriffs werden übertönt vom Rattern der Rotoren. Der Name des Festes, an dem der Showüberflug eines Superpumas aus Pietätsgründen gestrichen worden ist, lautet Luci e Ombre: Licht und Schatten.