Nach 24 Jahren hinter Gittern
Marc Senn erhält ein Stückchen Freiheit

Nach einem Vierteljahrhundert hinter Gittern ohne jegliche Lockerung ist der Verwahrte kürzlich in eine offene Anstalt verlegt worden. Möglich gewesen sei dies nur wegen des öffentlichen Drucks, sagt sein Anwalt.
Publiziert: 05.05.2024 um 09:30 Uhr
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Aktualisiert: 03.06.2024 um 15:24 Uhr
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Mit 18 Jahren zu zwei Jahren verurteilt, seit 24 Jahren im Gefängnis: Marc Senn (Name geändert) in der Pöschwies. Senn ist verwahrt.
Foto: STEFAN BOHRER
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Lisa AeschlimannReporterin & Blattmacherin

Der Verwahrte Marc Senn* (43) ist am Montag ins offene Massnahmenzentrum St. Johannsen im Kanton Bern verlegt worden.

Es ist ein erster kleiner Schritt hin zu einer Öffnung: Der Berner ist im Jahr 2000 zu zwei Jahren Haft verurteilt worden – und sitzt nun seit mehr als 24 Jahren. Senn war in dieser Zeit nicht einen einzigen Tag ausserhalb der Gefängnismauern. Alle Gesuche auf Haftlockerung oder -entlassung wurden abgelehnt: Er sei zu gefährlich, hiess es jeweils. Erst im Januar hat das Gericht Senns Antrag auf bedingte Entlassung erneut abgelehnt.

Nun soll Senn, der die letzten vier Jahre in der Zürcher Anstalt Pöschwies einsass, in St. Johannsen einen neuen Versuch starten. Die ehemalige Benediktinerabtei in Le Landeron NE am Bielersee bietet 80 Plätze für psychisch belastete oder suchtkranke Täter. Ziel ist es, diese schrittweise wieder «gesellschaftsfähig» zu machen.

Nur in der Nacht und über Mittag sind die Männer eingesperrt, tagsüber können sie sich frei bewegen. Das Zentrum ist umzäunt, doch das Tor steht offen. Nebst Therapien arbeiten die Insassen beispielsweise zuerst auf dem zentrumseigenen Bauernhof oder in der Gärtnerei, später folgen Arbeits- und Wohnexternate.

Die Plätze sind rar, Insassen kommen aus dem ganzen Land. Meist dauert es Jahre, bis ein solcher frei wird. Bei Senn hingegen ging es schnell: Nur sechs Wochen nach einem Platzierungsgespräch mit den Bewährungs- und Vollzugsdiensten des Kantons Bern wird er verlegt.

«Nur dank öffentlichem Druck möglich»

Anwalt Julian Burkhalter ist sich sicher, dass die Platzierung – dazu noch im Rekordtempo – nur wegen des öffentlichen Drucks möglich wurde: «Es gibt viel zu wenig Therapieplätze in der Schweiz.» Blick hatte im vergangenen Herbst in einer dreiteiligen Serie über Senns Geschichte berichtet.

In St. Johannsen kommt Senn zuerst in die sogenannte Beobachtungs- und Triagestation, eine geschlossene Abteilung mit acht Zellen – zuerst müssen die Betreuenden und auch die einweisende Behörde befinden, ob ein Wechsel verantwortet werden kann. Erst dann ist ein Übertritt möglich.

«Sein Schicksal scheint niemanden zu interessieren»
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Anwalt von Marc Senn im Januar:«Sein Schicksal scheint niemanden zu interessieren»

Nach vier Monaten wird geprüft, ob Senn so weit ist. Dafür muss er gemäss Protokoll nicht nur bei Therapien konstruktiv und motiviert mitarbeiten, er solle auch an seiner Impulsivität und Frustrationstoleranz arbeiten und seine Sucht in den Griff kriegen – Ziel sei die Abstinenz.

Senn zeigt sich gemäss Protokoll grundsätzlich motiviert, nur bezüglich Abstinenz äusserte er Bedenken. Er gab schon vor Gericht im Januar zu, dass er regelmässig Cannabis konsumiere und dies auch in Zukunft tun wolle – seiner Psyche wegen.

Senn ist «abgestumpft und hoffnungslos»

Anwalt Burkhalter sagt, Senn sei in St. Johannsen gut angekommen. Er habe im Zentrum jedoch mehrere Angestellte getroffen, die er von Gefängnisaufenthalten von vor 20 Jahren kenne – und dabei gemerkt, wie viel Zeit während seiner Haft verstrichen sei. «Er ist abgestumpft und hoffnungslos», sagt Burkhalter.

Für die Freiheit bleibt ihm jedoch keine andere Wahl, als sich zu fügen. Senns Programm ist auf drei Jahre ausgerichtet. Kommt er im Herbst 2024 in die offene Abteilung, dürfte er erstmals für wenige Stunden und begleitet wieder in die Gesellschaft – zum Beispiel, um einen Zahnarzttermin wahrzunehmen. Bei positivem Verlauf erfolgt ab Mitte 2025 die nächste Öffnung.

Egal wie es kommt, es bleibt ein langer Weg: Ziel wäre ein Arbeits- und Wohnexternat – das ist frühestens für Ende 2026 angedacht. Und: Macht Senn nicht mit, kann seine Massnahme immer verlängert werden.

* Name geändert

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