Die Verwahrten in der Pöschwies erkennt man auf den ersten Blick. Sie sind älter, vorwiegend weiss, die meisten gehen etwas gekrümmt, langsam, fast schlurfend; nicht wenige sind übergewichtig – Folgen des jahrelangen Bewegungsmangels oder der Medikamente.
Auch Marc Senn (Name geändert), der gerade den Besucherraum der grössten Haftanstalt der Schweiz betritt, sieht älter aus, als er eigentlich ist. Gesicht und Gang erinnern an einen 60-Jährigen, dabei ist er erst Anfang 40. Senn trägt die Gefängnis-Einheitskluft: braune Hose, hellblaues Sweatshirt. Er ist klein, aber kräftig, die Haare sind kurz, die Arme tätowiert. Sein Gesicht ist unscheinbar – abgesehen von den grossen, braunen Augen.
Marc Senn sitzt seit 23 Jahren. Seinen letzten Freigang hatte er 2001 – vor 22 Jahren. Marc Senn war noch fast ein Kind, als er inhaftiert wurde. Und er wird alt sein, wenn er freikommt. Wenn er überhaupt freikommt. Denn Senn ist verwahrt.
Senn hat nie eine Ausbildung gemacht, nie gearbeitet, nie eine Familie gegründet, nie längere Freundschaften gepflegt. Hatte nie eine eigene Wohnung, nie ein Zuhause.
Besuch ist für ihn ungewohnt. Nur eine Freiwillige aus dem Team 72, einem sozialen Projekt zur Reintegration, kommt noch zu ihm. Er besteht darauf, der Journalistin Wasser zu bringen. Beim Wasserspender am Ende des Raums drückt er jedes Mal so fest, dass der Becher überquillt, das Wasser auf den Boden tropft. Er bringt es an den Tisch, «bitteschön, Mademoiselle», und macht einen leichten Knicks.
«Ich bin kein Monster»
Senn spricht leicht verwaschen und mit den Worten einer Person, die Jahrzehnte Therapie hinter sich hat. Statt «zustechen» sagt er «verminderte Impulskontrolle». Einer Person, die nichts als Zeit hatte, über sich selbst zu denken und zu sprechen.
Er sagt: «Ich bin nicht das Monster, zu dem man mich in den Akten gemacht hat.» Marc Senn hat niemanden umgebracht oder vergewaltigt. Er ist weder pädophil noch wahngestört.
Senn kämpft seit zehn Jahren um eine faire Chance, hat Dutzende Gesuche um eine bedingte Entlassung gestellt, unzählige Male Urlaub beantragt. Alles abgelehnt. Jedes Mal heisst es: zu gefährlich.
SonntagsBlick hat Marc Senn und seinen Verteidiger über Monate begleitet, Verhandlungen besucht, Akten gesichtet, ihn in der Pöschwies besucht. Senn heisst in Wirklichkeit anders, zu seinem Schutz verwenden wir ein Pseudonym.
Bei Marc Senn geht es um mehr als um ein Einzelschicksal, sein Fall wirft grundsätzliche Fragen auf: Wie viel Sicherheit ist genug? Wie gehen wir in der Schweiz mit psychisch kranken Personen um? Was zählt mehr: die Rechte von Straftätern oder der Schutz potenzieller Opfer? Und: Verdient Marc Senn wirklich keine Chance?
Senns Geschichte beginnt am 10. Januar 2000 mit einem folgenschweren Ausraster.
Im Drogenrausch auf Mutter eingestochen
Der 18-jährige Senn hat einen Nachmittag voller Alkohol und Drogen hinter sich, als er in die Sozialwohnung zurückkehrt, die er mit der Mutter teilt. Sie sitzt mit einer ebenfalls drogensüchtigen Bekannten vor dem Fernseher.
Senn, maskiert und im Drogenrausch, brüllt herum und sticht mit einem Fleischermesser auf die beiden ein. Die Mutter kann ausweichen und wird nur leicht verletzt. Die Bekannte trifft er mit einer Fleischgabel in die Brust – auch hier keine schwere Verletzung. Mit einem selbst gebastelten Tomahawk randaliert er im Treppenhaus und bedroht eine Nachbarin. Ein herbeigerufener Polizist kann ihn schliesslich überwältigen.
Senn kann sich nur noch bruchstückhaft an den Abend erinnern: an den Geruch der Tomatensuppe, den Lärm des Staubsaugers und den des Fernsehers. In seinem Blut werden später Rohypnol, Schlafmittel, Methadon, Heroin, Haschisch und Psilocybin-Pilze sowie eine Alkoholkonzentration zwischen 1,95 bis 2,82 Promille nachgewiesen. Ein Gutachten bescheinigt ihm «mittel bis schwer herabgesetzte Zurechnungsfähigkeit».
Als dumm und naiv bezeichnet Senn selbst seine Tat später. Er hätte seine Sachen packen und gehen sollen. Hätte. Sollte. Doch das Unheil beginnt – wie so oft – schon viel früher.
Eine schwierige Familie
Marc Senn wächst in Köniz bei Bern auf. In zerrütteten Verhältnissen. Seine Mutter arbeitet zuerst als Prostituierte, später als Druckerin und Käseverkäuferin. In den Akten heisst es, sie habe vermutlich ein Leben geführt, in dem der Sohn nur wenig Platz hatte. Sein Vater, ein alkoholkranker ehemaliger LKW-Chauffeur, schlägt ihn.
Seine Eltern lassen sich scheiden, als Marc neun Jahre alt ist. Die Mutter zieht ihn und seine ältere Halbschwester alleine gross. Den Vater sieht er nicht wieder.
In der Schule fällt Senn schon früh auf. Er ist zwar ein intelligentes Kind mit guten Noten, doch er hat Mühe mit dem Sprechen, wird gehänselt. Er schlägt andere Kinder, um sich Respekt zu verschaffen, und quält Tiere, zerdrückt einen Frosch – aus Frust, wie er sagt. Es sei sein Ventil gewesen.
Mit 12 beginnt er zu kiffen, nimmt bald Heroin und wird wegen Einbruchs und Diebstahls verurteilt. Mit 13 kommt er in ein Heim für schwer erziehbare Kinder in Basel. Einmal versucht er, sich das Leben zu nehmen.
Die ordentliche Verwahrung gilt auf unbestimmte Zeit, trifft Täter, die schwere Gewalt- oder Sexualdelikte begangen haben, als gefährlich und untherapierbar gelten. Im Jahr 2021 befanden sich in der Schweiz 145 Menschen in einer Verwahrung. Darunter ist laut Bundesamt für Statistik eine Frau.
Eine Entlassung wird regelmässig geprüft, ist aber selten. In den letzten zwanzig Jahren waren es meist zwischen drei und sechs Personen pro Jahr.
Die stationäre Massnahme nach StGB Art. 59Wird ein Täter als psychisch krank und gefährlich eingestuft, kann das Gericht eine stationäre therapeutische Massnahme, besser bekannt als «kleine Verwahrung» anordnen. Die Massnahme dauert höchstens fünf Jahre, kann jedoch beliebig verlängert werden. Heute sind über 800 Personen in der «kleinen Verwahrung», 2008 waren es erst knapp 300.
Sowohl die Verwahrung als auch die stationäre Massnahme dienen ausschliesslich dem Schutz der Öffentlichkeit. Sie folgen nach der Freiheitsstrafe.
Die ordentliche Verwahrung gilt auf unbestimmte Zeit, trifft Täter, die schwere Gewalt- oder Sexualdelikte begangen haben, als gefährlich und untherapierbar gelten. Im Jahr 2021 befanden sich in der Schweiz 145 Menschen in einer Verwahrung. Darunter ist laut Bundesamt für Statistik eine Frau.
Eine Entlassung wird regelmässig geprüft, ist aber selten. In den letzten zwanzig Jahren waren es meist zwischen drei und sechs Personen pro Jahr.
Die stationäre Massnahme nach StGB Art. 59Wird ein Täter als psychisch krank und gefährlich eingestuft, kann das Gericht eine stationäre therapeutische Massnahme, besser bekannt als «kleine Verwahrung» anordnen. Die Massnahme dauert höchstens fünf Jahre, kann jedoch beliebig verlängert werden. Heute sind über 800 Personen in der «kleinen Verwahrung», 2008 waren es erst knapp 300.
Sowohl die Verwahrung als auch die stationäre Massnahme dienen ausschliesslich dem Schutz der Öffentlichkeit. Sie folgen nach der Freiheitsstrafe.
Statt eine Lehre zu machen, arbeitet er als Tagelöhner, interessiert sich für Satanismus und asiatische Waffen. Er rutscht weiter in die Sucht: Alkohol, Schlaftabletten, Cannabis, Heroin, Kokain, Amphetamine, LSD, Ecstasy, Paracodein. Zeitweise lebt er auf der Strasse und prostituiert sich für den Stoff. Beim Treffen sagt er: «Ich habe meine Freiheit vorbezogen, lebte wie ein Erwachsener.»
Im Alter von 16 Jahren steht er wegen Einbruchs vor Gericht, mit 18 wegen Heroin-Handels. Man stellt ihm einen Sozialarbeiter zur Seite, schickt ihn in ein Methadonprogramm. Doch Senn verwahrlost zusehends.
Als er wieder bei seiner Mutter ist, wird die Lage explosiv, es gibt ständig Streit. Nur drei Tage vor der Tat hält ein Gutachten fest, er brauche eine stationäre Therapie.
Reue vor Gericht
Vor Gericht streitet Senn die Tat nicht ab. Es tue ihm leid, er wolle sich bessern. Das Gericht verurteilt ihn im November 2000 wegen mehrfacher versuchter schwerer Körperverletzung zu 24 Monaten Haft, schiebt die Strafe aber zugunsten einer stationären Rauschgift-Therapie auf. Ziel ist der Entzug. Der damalige Gerichtspräsident sagt: «Der junge Mann soll eine Chance erhalten, in Zukunft ein normales Leben führen zu können.»
Wie sehr er sich irrte.
Eineinhalb Jahre später wird die Massnahme «wegen Unzweckmässigkeit» eingestellt. Senn ist erst 20 Jahre alt, als ihm eine Diagnose gestellt wird, die kein Richterspruch ist, aber unübersehbare Konsequenzen mit sich bringt: emotional-instabile Persönlichkeitsstörung. Marc Senn gilt fortan als gemeingefährlich. Er wird verwahrt.
Als Senn davon erfährt, bricht er im Lift zusammen. Denn seine bisher reale Chance auf eine Zukunft in Freiheit ist von einem Tag auf den andern in kilometerweite Ferne gerückt.
Die hoffnungslosen Fälle
Die Verwahrung ist keine Strafe, sondern eine Sicherungsmassnahme – sie dient ausschliesslich dem Schutz der Öffentlichkeit. Verwahrte sind die Untherapierbaren, die hoffnungslosen Fälle. 2021 waren 145 Personen verwahrt. Die meisten haben Schlimmeres getan als Senn: Sie haben gemordet oder vergewaltigt, Kinder geschändet.
Senns Chancen, je wieder freizukommen, stehen sehr schlecht: Nur zwei Prozent aller Verwahrten werden gemäss einer neuen Untersuchung entlassen. Mit ein Grund dafür: Ein Verwahrter muss beweisen, dass er sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in Freiheit bewähren kann.
Sicherheit um jeden Preis
Marc Senns Geschichte zeigt, wie sich die Arbeit der Justizbehörden verändert hat: weg von der Aufklärung von Verbrechen, hin zum Verhindern möglichst aller Straftaten.
Begonnen hat dies vor 30 Jahren: Im Oktober 1993 ermordet der damals 34-jährige Erich Hauert, ein verurteilter Mörder und Sexualstraftäter, im Hafturlaub eine 20-jährige Pfadfinderin. Die Leiche verscharrt er in einem Waldstück in Zollikerberg ZH.
Der Mord verändert die Schweiz. Bei den Strafverfolgungsbehörden wird die Devise «Im Zweifel für die Sicherheit» zum Leitmotto. Urlaubsrichtlinien werden verschärft, Verwahrungen nehmen massiv zu. Die öffentliche Sicherheit und der Schutz potenzieller Opfer wird zum Mass aller Dinge. Härte vor Recht.
Eine Entwicklung mit verheerenden Folgen. Denn: Wer entscheidet, ob jemand gefährlich ist? Wie viel Sicherheit ist genug? Und wie gewichtet eine Gesellschaft die Rechte von Bürgern, die ihre Strafe abgesessen haben?
Die kurze Antwort: Es gibt nie genügend Sicherheit, alle sind gefährlich – und niemand, schon gar kein Regierungsrat, will seinen Kopf für einen Häftling riskieren.
Wie es Marc Senn im Vollzug erging und warum Kritik an der Verwahrung immer lauter wird, liest du im zweiten Teil.
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