«Wir stehen vor einer militärischen Eskalation. Das ist, was man hier gut spürt», sagte Cassis am Samstag gegenüber «SRF». Cassis sagte auch, die Schweiz sei momentan nicht in der Lage zu vermitteln. Dies, weil sich die Schweiz aus der Sicht Russlands nicht genügend neutral verhalte.
Die russische Botschaft in der Schweiz hatte schon im vergangenen August die Aussage gemacht, die Schweizer Regierung sei durch die Übernahme der Sanktionen gegen Russland nicht mehr neutral. Russland sei nicht bereit, Vermittlungsangebote von Ländern, die sich den Sanktionen angeschlossen hätten, in Verhandlungen mit der Ukraine zu berücksichtigen.
Neutralität keine Selbstverständlichkeit
Die Schweizer Neutralität ist in einem Europa, das sich im Krieg befindet, immer noch keine Selbstverständlichkeit. Trotzdem hat auf der am Freitag eröffneten Münchner Sicherheitskonferenz niemand die Tatsache angeprangert, dass die Eidgenossenschaft im Ukraine-Konflikt neutral bleibt.
Auch der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (64) liess am Freitag die Weigerung Berns, Munition in die Ukraine zu reexportieren, in seiner Eröffnungsrede unerwähnt. Hingegen konzentrierte er sich auf die Notwendigkeit des Wiederaufbaus einer Rüstungsindustrie in der Bundesrepublik.
Munition und das Schweizer Parlament
Die Neutralität und ihre Folgen für die europäischen Nachbarn und Verbündeten der Eidgenossenschaft zu akzeptieren, ist hingegen eine andere Sache. «Ich habe hier Kontakte gehabt, die zeigen, dass man die Schweizer Neutralität versteht», erklärt Bundesrat Ignazio Cassis (61) gegenüber Blick. «Aber ich muss meine Gesprächspartner jedes Mal an die Situation erinnern, in der wir uns befinden. Die Frage der Munition wird gerade Tag und Nacht im Schweizer Parlament diskutiert. Unter diesen Umständen hat der Bundesrat keinen Handlungsspielraum. Die Entscheidung wird im Parlament getroffen.»
Die Definition von Neutralität hat sich innerhalb eines Jahres radikal geändert. Bei der letzten Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2022 war die Schweiz noch nicht der einzige neutrale Staat. Finnland, Schweden, Österreich und Irland gehörten zur selben Gruppe von Ländern, die sich nicht an einem bewaffneten Konflikt beteiligen und sich von der westlichen Militärallianz NATO fernhalten wollten.
Dieses Jahr sieht die Situation auf dem bei weitem wichtigsten europäischen Sicherheitsforum aber ganz anders aus. Der finnische Präsident Sauli Niinistö (74) sprach am Samstagmorgen im Plenum vor der amerikanischen Vizepräsidentin Kamala Harris (58), um die Integration seines Landes in das Atlantische Bündnis zu verteidigen.
«Ganz Europa ist dabei, sich wiederzubewaffnen. Das ist eine Tatsache. Meine Generation hätte nie gedacht, dass sie das erleben würde. Das destabilisiert alles», so Bundesrat Cassis.
Die ehemaligen neutralen Länder
Der Vorsteher des EDA tauschte sich in München mit den Staats- und Regierungschefs dieser «ehemals neutralen skandinavischen Länder» aus, die mittlerweile zu militärischen Verbündeten in der NATO geworden sind. «Der Fall von Schweden ist für uns sehr interessant», räumt Cassis ein. «Wir müssen uns die Neutralität so ansehen, wie sie ist. Es gibt Dinge, die wir von diesen Ländern lernen können. Ich sage es noch einmal: Wir sind sehr daran interessiert», sagt er.
Die grosse Frage ist: Wie kann man sich als neutrales Land im Dienste des Völkerrechts in einem Europa positionieren, in dem Russland laut Bundesrat «massiv gegen das Völkerrecht verstossen» hat? Ein Beispiel dafür ist die Nicht-Einladung russischer Vertreter zur Münchner Sicherheitskonferenz. «Ich organisiere diese Konferenz nicht», wich der Bundesrat auf die Frage nach seiner Meinung aus, als gerade die Kolonne schwarzer Autos des US-Aussenministers Antony Blinken (60) vor dem Hotel Bayerischer Hof hielt.
Die Europäische Politische Gemeinschaft
Eine Tür, welche der Schweiz offen steht, ist die Europäische Politische Gemeinschaft (EPG), ein Forum von etwa 40 Ländern rund um die Europäische Union, das am 6. Oktober 2022 in Prag ins Leben gerufen wurde. Die grosse Frage ist dabei, ob die EPG in der Lage sein wird, Russland, der Ukraine und anderen europäischen Ländern einen Raum für die Zusammenarbeit zu bieten.
«Die Schweiz ist am Prozess der EPG beteiligt. Wir werden alles tun, um diesen voranzubringen», so Cassis, ohne jedoch weiter ins Detail zu gehen. Auch liess der Bundesrat unbeantwortet, ob die Schweiz als Austragungsort eines solchen Treffens des Forums infrage käme.