Am Dienstagmorgen informiert ein Forschungsteam der Universität Zürich über die Ergebnisse einer wichtigen Pilotstudie über sexuellen Missbrauch im Umfeld der katholischen Kirche. Erstmals konnten unabhängige Historiker in kirchlichen Archiven über sexuellen Missbrauch forschen.
Mario Delfino (67) engagiert sich schon länger öffentlich gegen sexuellen Missbrauch im kirchlichen Umfeld – und gegen das Vertuschen und Verschweigen. Dabei sprach er 2019 im Vatikan mit Papst Franziskus über seine eigenen schmerzhaften Erfahrungen.
Als zwölfjähriger Bub wurde der Italiener in der Schweiz administrativ zwangsversorgt. Am 3. Oktober 1968 kam er in die Arbeitserziehungsanstalt Bad Knutwil im Kanton Luzern, die von deutschen Mönchen brutal geführt wurde. Zuerst wurden ihm die Haare geschoren und der Name genommen – er wurde nur noch als «119» angesprochen. Delfino und viele andere der 120 Knaben wurden Opfer von Gewalt und sexuellen Übergriffen.
«Hauch des Todes»
Der Gruppenleiter, Bruder Richard, holte während mehrerer Jahre abends oft eine Gruppe junger Burschen aus den Schlafsälen. Sie mussten sich in Unterhosen aufreihen. Der Mönch spazierte hinter ihnen her, den Rosenkranz in der Hand. «Es war wie ein Hauch des Todes», sagt Delfino. Die Burschen zitterten vor Angst, manche nässten sich ein. Der Mönch berührte sie sexuell, und die Buben mussten ihn berühren. Einer musste dann auch mit aufs Zimmer des Mönchs.
Bruder Gustav war in der Anstalt für medizinische Belange zuständig. Bei ihm mussten sich die Buben jeweils nackt ausziehen und wurden dann ausführlich abgetastet.
Der katholische Pfarrer von Knutwil missbrauchte seine Ministranten zu dieser Zeit – vor und nach den Gottesdiensten. Unter anderem befragte er sie im Beichtstuhl, ob sie sich angefasst hätten. Der Priester kam dann auf die andere Seite des Beichtstuhls, und berührte die Knaben sexuell.
Der Lehrer, Bruder Viktor, liess die Kinder jeweils mit dem Gesicht zur Wandtafel Gedichte auswendig aufsagen. Machten sie dabei einen Fehler, schlug er ihnen so fest auf den Kopf, dass sie sich die Nase an der Tafel blutig schlugen.
Der Turnlehrer, Bruder Gotthard, liess die Knaben jeweils «um ihr Leben rennen». Der Langsamste kassierte zum Schluss Schläge.
Auf dem Motorrad zu Pfarrer Sieber
Im Umfeld von Mario Delfino ereigneten sich mehrere Suizide. Unter seiner Wolldecke dachte er sich oft: «Hoffentlich darf ich bald sterben.» Einmal gab es in der Nacht im Zimmer einen Knall – ein Kamerad hatte sich erhängt. Danach wurden die Buben nicht getröstet, sondern verprügelt.
In der Bibliothek der Anstalt entdeckte Delfino später ein Buch mit einem farbigen Schmetterling. Mit drei Nadeln und Tinte tätowierte er sich das Freiheitssymbol eigenhändig in den Unterarm.
Nach vier Jahren kam Delfino schliesslich frei. Er arbeitete zunächst auf Bauernhöfen in Henau SG und in Horgen ZH. Später zog er in die Stadt Zürich, wo er in einer Notschlafstelle landete. Ein Mitglied der Motorradgang Hells Angels brachte ihn zum Obdachlosenpfarrer Ernst Sieber (1927–2018) nach Zürich-Altstetten. Sieber gelang es, Delfino auf eine gute Bahn zu leiten.
Er machte eine Maurer-Lehre, war als Security tätig und wurde später Abwart in Kirchengemeinden und Schulen. Heute ist Delfino zwar finanziell nicht auf Rosen gebettet, aber glücklich verheiratet und Grossvater eines kleinen Buben.
Er selbst war als fünfjähriges Kind von einem kinderlosen Ehepaar aus einem Waisenhaus in Bergamo nach Thalwil an den Zürichsee geholt worden. Den Adoptiveltern gelang es jedoch nie, eine positive Beziehung zum Knaben aufzubauen – sie schlugen ihn und schickten ihn zuerst in ein Kinderheim in Altdorf UR, wo er von 1963 bis 1967 lebte. Dort machte er gute Erfahrungen mit Nonnen, fand Trost im Glauben.
Papst-Audienz und Kritik an der Kirche
Die Einstellung zur Kirche änderte sich allerdings fundamental. Im Rückblick sagt er: «Gott hat seinen Job nicht gemacht. Wie kann man Kinder in einer Kirche missbrauchen?» Wenn es einen Gott gäbe, dann müsse er eingreifen, wenn solches Unrecht geschehe. «Doch es passiert nichts.»
Natürlich gebe es auch gute Menschen in der katholischen Kirche, sagt er. Mit der Institution hat sich Delfino allerdings nicht versöhnt. Auch die Audienz bei Papst Franziskus im März 2019 änderte daran nichts. «Die katholische Kirche hat auf ganzer Linie versagt.» Es fehle an Demut.
Der Besuch in Rom ergab sich im Rahmen seines Engagements für die Wiedergutmachungsinitiative, die den Weg ebnete für eine finanzielle Entschädigung von Verding- und Heimkindern, die 2016 im Bundeshaus beschlossen wurde. Als Wiedergutmachung erhielt Delfino 25’000 Franken von der Eidgenossenschaft – und 10’000 Franken von der Kirche.
Mario Delfino spricht in der Öffentlichkeit, weil er dazu beitragen will, dass sich die Dinge verändern. Im Gedenken an jene Kameraden, welche die Torturen nicht überlebt haben – oder bei harten Drogen gelandet sind. Denn er ist überzeugt: «Kinder sind unantastbar.»
Gespannt blickt er auf die Erkenntnisse der Studie zur Geschichte des sexuellen Missbrauchs im Umfeld der katholischen Kirche, die am Dienstag präsentiert wird. Blick berichtet ab 9.30 Uhr live von der Pressekonferenz.
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