Krieg in Äthiopien
Bangen um Frieden

Wir haben Krise. Corona. Sorgen. Manche unserer Mitmenschen haben dazu noch Krieg in ihrer Heimat. Drei Männer aus Eritrea erzählen – und wir hören zu. Auch das ist Weihnachten.
Publiziert: 19.12.2020 um 18:38 Uhr
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Aktualisiert: 21.12.2020 um 14:14 Uhr
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Solomon Abraham und Ate Debesay rufen zu Frieden in Äthiopien und Eritrea auf.
Foto: Thomas Meier
Aline Wüst

Zuerst waren es Heuschrecken. Schwärme, die den Himmel verdunkelten. Sie frassen alles. Ganze Ernten wurden zerstört. Die Heuschrecken hinterliessen Hunger im Norden von Äthiopien.

Ate Debesay lebt in der Schweiz. «Das ist meine zweite Heimat», sagt er. Seine erste ist Eritrea. Debesay liebt die Demokratie. Vor zehn Jahren flüchtete er aus der Diktatur seines Heimatlandes. Mit ihm viele andere. 28'000 anerkannte Flüchtlinge aus Eritrea leben in der Schweiz. Debesay wohnt in Winterthur, ist verheiratet, hat vier Kinder. Sein Traum ist ein Studium der Verkehrswissenschaften. Er hat schon einmal damit begonnen. Musste dann abbrechen, weil das Geld nicht reichte. Nun arbeitet er wieder als Chauffeur. Seinen Traum hat er nicht aufgegeben. Aber aufgeschoben.

Von der Heuschreckenplage betroffen ist ganz besonders eine äthiopische Region: Tigray. Sie grenzt an Eritrea. Ate Debesay konnte nicht wegschauen, als er hörte, wie die Heuschrecken die Ernten und damit die Zukunft frassen. Im September verfasste er einen Brief: «Wir als Eritreer möchten die Tigray-Bauern unterstützen, ihren Hilfeschrei hören und Solidarität zeigen.» Gemeinsam mit anderen Eritreern in der Diaspora beginnt Debesay Geld für die Bauern in Äthiopien zu sammeln.

Nun sind diese Bauern geflohen. Nicht vor Heuschrecken. Vor Gewalt. In Tigray ist Krieg.

Ein Café in Winterthur. Debesay und seine Freunde Yemane Yohannes, Solomon Abraham und Bereket Asfaha sitzen um einen Tisch. In den vergangenen Wochen haben sie zusammen mit Äthiopiern Kundgebungen organisiert, in Bern und in Genf. Sie riefen zu Frieden auf. Ihre Botschaft blieb ungehört.

Friedensnobelpreisträger führt Krieg

Vor zwei Jahren wurde Abyi Ahmed zum neuen Ministerpräsidenten Äthiopiens gewählt. Ihm gelang, was der Welt als Sensation erschien: Er schloss Frieden mit dem Erzfeind Eritrea. Dafür bekam er den Friedensnobelpreis. Ein Jahr später schaltet er Internet und Telefonverbindungen aus, lässt in Tigray Bomben fallen und äthiopische Soldaten gegen Landsleute vorgehen.

Was in Tigray geschieht, ist unklar. Kommunikation und Strassen sind geblockt, Hilfsorganisationen und ausländische Journalisten haben keinen Zugang. Die wenigen Informationen, die nach aussen dringen, sind deshalb kaum zu verifizieren.

Was klar ist: Zehntausende Menschen sind über die Grenze in den Sudan geflohen. Fast die Hälfte davon Kinder.

Mütter in diesen Flüchtlingslagern berichten, dass sie mit ihren Neugeborenen wegrannten, dass Familienangehörige zurückblieben. Männer erzählen von Leichen am Wegrand. Andere, dass ihnen Waffen in den Mund gehalten wurden. Es ist von Vergewaltigungen durch Soldaten die Rede. Einige tragen sichtbare Zeichen von Gewalt am Körper.

«Unsere Brüder und Väter sterben»

Die vier Freunde sitzen im gedimmten Licht des Cafés. Draussen auf der Strasse dämpft Corona die Weihnachtsstimmung. Es ist Krise. Auf ihren Facebook-Timelines aber ist Krieg. Und was sie von ihren Familien in Eritrea hören, beunruhigt sie noch mehr: Äthiopische Truppe fliegen in die eritreische Hauptstadt Asmara. Gemeinsam mit eritreischen Soldaten ziehen sie in den Krieg. Für die vier Männer gibt es keinen Zweifel: «Der eritreische Diktator unterstützt die Regierung von Äthiopien in ihrem Kampf gegen die Menschen in Tigray.» Sie sagen: «Wir wollen das nicht. Das sind unsere Väter und Brüder, die nun vom eritreischen Diktator an die Front geschickt werden, dort sterben.»

Die beiden Machthaber würden nun ihr wahres Gesicht zeigen, sagt Ate Debesay. Das sei damals kein Friedensabkommen gewesen. «Es war eine Vorbereitung für den gemeinsamen Krieg.» Zusammen wollen der äthiopische Präsident und der eritreische Diktator die herrschende Partei in Tigray bekämpfen, die TPLF. Die Motivation ist unterschiedlich: Äthiopien, um die alte Elite unschädlich zu machen – die ethnische Minderheit war im Vielvölkerstaat während 30 Jahren an der Macht. Der eritreische Diktator, um sich für den Grenzkrieg zu rächen, den er vor 20 Jahren gegen die TPLF verlor. Es gibt noch eine dritte Partei, die kämpft: Milizen aus dem angrenzenden Gebiet Amhara.

Zurück ins Café mit dem gedämpften Licht, wo auch Yemane Yohannes sitzt. Der Winterthurer ist Vater, Ehemann und arbeitet als Sanitätsinstallateur. Er floh aus Eritrea, nachdem er ins Gefängnis gekommen und gefoltert worden war. Der Grund: Er hatte an seiner Hochschule gefragt, weshalb er seine Studienfächer nicht selber wählen dürfe. Nach dem Gefängnis wurde er in den Militärdienst eingezogen. Zuerst hiess es, für sechs Monate. Dann erfuhr er, dass er auf unbestimmte Zeit Soldat sein müsse und nie mehr an die Hochschule zurückkehren dürfe. Yemane Yohannes floh. Zwei Jahre war er unterwegs. Seine erste Station auf der Flucht war ein Flüchtlingslager in Äthiopien, bevor er mit einem Boot das Mittelmeer überquerte.

Hunderttausend Menschen, die aus Eritrea geflohen sind, leben noch heute in solchen Lagern in Äthiopien. Die vier Freunde haben gehört, dass eritreische Soldaten in die Flüchtlingslager eindringen. Diplomaten und Hilfsorganisationen bestätigen dass mittlerweile. «Die Menschen werden von dort entführt und zurück nach Eritrea gebracht.» Was mit diesen Menschen geschieht, weiss niemand.

«Es ist ein Völkermord»

Yemane Yohannes sagt: «In Äthiopien kämpfen politische Parteien gegeneinander. Sie kämpfen um Macht. Aber das Volk – was haben die Menschen gemacht, die in Tigray leben? Sie haben nichts damit zu tun. Jetzt wird ihre Infrastruktur zerstört, sie werden bombardiert und müssen fliehen.»

Ate Debesay spricht aus, was er befürchtet: «Es ist ein Genozid.» Ein tygrinischer Arzt, der ebenfalls in den Sudan geflohen ist, bestätigt das gegenüber dem «Spiegel»: «Viele Menschen sterben. Es ist ein Völkermord.»

Ate Debesay, Yemane Yohannes, Salomon Abraham und Bereket Asfaha haben in der Schweiz ein neues Leben begonnen. Sie verstehen, dass die europäischen Länder keine Zeit haben für den Konflikt in ihrer Heimat. Die vier Freunde aber können nicht wegschauen. Für sie ist es nicht irgendein Krieg. Sie haben Familie in Eritrea, Freunde in Tigray.

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