Auf einen Blick
- Sabine Farner kämpft gegen Kirchenglocken – so wie schon viele in der Schweiz
- Allein im Kanton Zürich laufen derzeit drei Petitionen gegen Glockengeläut
- Glockenschläge können laut ETH-Studie ab 40 Dezibel Schlafstörungen verursachen
- In der Lärmschutzverordnung gibt es keine Grenzwerte für heiliges Bimmeln
Die Kirchenglocke ertönt, und Sabine Farner (57) weitet ihre Augen. Ihr Blick gleitet zur Buddha-Statue, die im Wohnzimmer ruht. Wieder ein metallischer Schlag, Farner ballt die Fäuste. «Es ist unerträglich», sagt sie. Die Yogalehrerin hat ihre innere Ruhe verloren. Ihr Sündenbock: die Glocke der reformierten Kirche auf der Egg in Zürich-Wollishofen.
«Ich bete zu Gott, dass die Kirchenglocke verstummt», sagt sie. Mit ihrer Forderung steht sie nicht alleine da. Von der Gemeinde Pura im Tessin über Saint-Saphorin in der Waadt bis ins glarnerische Luchsingen – schweizweit wurde schon über das Glockenläuten gestritten. Allein im Kanton Zürich laufen derzeit drei Petitionen, die den Glockenschlag eindämmen wollen – eine davon hat Farner lanciert. Bisher haben erst 25 Personen unterschrieben, doch Farner ist überzeugt: «Viele in Wollishofen leiden, trauen sich aber nicht, etwas dagegen zu unternehmen.»
Konflikte ums Glockenläuten drehen sich stets um dieselbe Frage: Ist es ein wohltuender Klang, der Tradition und Gemeinschaft vermittelt, oder ein störender Lärm, der verstummen muss? Häufig beginnt der Ärger, wenn jemand an einen neuen Ort zieht – so wie Sabine Farner vor zwei Jahren – und dann realisiert, dass eine Kirchenglocke den Schlaf rauben kann.
«Die Kirche ist gar keine Kirche mehr»
Besonders empfindlich sind die meisten Glockengegner, wenn es zwischen 22 Uhr und 6 Uhr bimmelt. In Wollishofen herrscht jedoch bis 7 Uhr Stille. Dann beginnt das traditionelle Morgengeläut, das die Gläubigen einst zum Gebet rief. Für Farner ist das längst überholt: «Wer in Gottes Namen steht heute noch um 7 Uhr auf, um zu beten?» Besonders stossend findet sie, dass die reformierte Kirche in Wollishofen «gar keine Kirche mehr» sei. 2012 wurde beschlossen, die Kirche umzunutzen, da zu wenige Personen den Gottesdienst besuchten. Zwischenzeitlich war es ein Orgelzentrum, heute finden Lichtshows eines Künstlerkollektivs statt. Gemäss reformierter Kirche gäbe es jedoch weiterhin kirchliche Veranstaltungen, zum Beispiel an Weihnachten oder Palmsonntag.
Farner wünscht sich, dass «wenigstens» das Morgengeläut auf 9 Uhr verschoben wird – eine Forderung, die 2022 auch die Alternative Liste in einer Motion in der Stadt Zürich erhoben hat. Der Stadtrat lehnte den Vorstoss ab, da der Bund zuständig sei. Nur: Die Lärmschutzverordnung des Bundes enthält keine Grenzwerte für Kirchenglocken. Einzig eine Richtlinie des Bundesamts für Umwelt besagt: Glockenlärm sei zulässig, solange er nicht «erheblich störend» sei.
Farners Wohnung liegt 400 Meter von der Kirche entfernt. Bei geschlossenem Fenster erreicht der Glockenschlag 40 Dezibel – etwa die Lautstärke eines leisen Gesprächs. Das klingt harmlos, doch eine ETH-Studie von 2011 besagt, dass bereits ab 40 Dezibel Schlafstörungen auftreten können. Glockenschläge seien durch ihre «deutlich hervortretende Tonalität und Impulshaltigkeit» gravierender als beispielsweise Fluglärm.
Der Klangkrieg vor Bundesgericht
«Wenn ich diesen Schlag am Morgen höre, bekomme ich fast einen Herzinfarkt», sagt sie. Sie habe alles versucht – Atemübungen, Beruhigungstropfen, Meditation, Ohropax, Schlafmusik – nichts helfe. «Teils wache ich in der Nacht panisch auf, aus Angst vor dem Schlag.»
Warum zieht sie nicht weg? «Ich muss in der Stadt wohnen», meint die Yogalehrerin, da ihre Lektionen über den Tag verteilt stattfinden. Und es sei schwierig, eine neue Wohnung in Zürich zu finden. Für ihre jetzige Bleibe habe sie drei Jahre lang gesucht. Daher bleibe nur eine Option: der Kampf gegen die Glocke.
Im Klangkrieg haben sich schon einige bis vor Bundesgericht gewehrt. Da es keine klare Regelung gibt, musste das oberste Gericht jeden Fall einzeln beurteilen. In Wädenswil ZH ging ein Ehepaar gegen das nächtliche Glockengeläut vor. Das Bundesgericht entschied im wegweisenden Urteil, dass Glocken auch nachts läuten dürfen. Es gebe keinen absoluten Anspruch auf Ruhe. Glocken seien dazu da, um zu läuten. Massgeblich sei unter anderem, ob Glocken als Kulturerbe in der lokalen Bevölkerung verwurzelt sind. Letztlich obliege es den örtlichen Behörden, zwischen Tradition und Ruhebedürfnis abzuwägen.
Ihre Beschwerden füllen einen Ordner
Die Kirchengemeinden können also weitgehend autonom entscheiden, ob und wann ihre Glocken schlagen. Bei einem Lärmstreit empfehlen die Landeskirchen, verschiedene Massnahmen zu prüfen. Die reformierte Kirche in Wollishofen führt beispielsweise das Morgengeläut nur wochentags durch, auf drei Minuten begrenzt und nur mit der kleinsten Glocke. Eine Anpassung der Klöppel sei zudem in Abklärung, heisst es.
Die Landeskirche empfiehlt zudem, das Gespräch zu suchen. Farner sagt, sie sei ein kommunikativer Mensch. Ihre Beschwerden füllen einen ganzen Ordner. «Aber die Kirche ignoriert mich.» Einmal sei eine Pfarrerin vorbeigekommen und habe ihr vorgeschlagen, einen Gottesdienst zu besuchen. «Eine Frechheit!»
Die reformierte Kirche betont: «Das Gespräch mit der betroffenen Person wurde mehrfach und umfassend gesucht.» Letztlich liege das Morgengeläut vielen Menschen in Wollishofen am Herzen. Einst habe es sogar «besorgte Rückfragen» gegeben, als das Geläut wegen Reparaturarbeiten vorübergehend ausfiel.
Farner will sich damit nicht abfinden. Der schweizweite Konflikt ums heilige Bimmeln ist wohl noch lange nicht vorbei.