Hirnforscher Lutz Jäncke erklärt, wieso wir wegen dem Facebook-Ausfall durchdrehen
«Menschen sind nicht für diese digitale Welt geschaffen»

Eine ehemalige Facebook-Mitarbeiterin belegt mit internen Studien, dass Facebook der Gesellschaft wissentlich schadet, um mehr Profit zu machen. Hirnforscher Lutz Jäncke überrascht das nicht – er erklärt, wie wir uns weniger abhängig machen.
Publiziert: 07.10.2021 um 06:42 Uhr
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Laut Whistleblowerin Frances Haugen hält Facebook an Algorithmen fest, die Falschinformationen und Hassreden bevorzugen, weil es Nutzer länger auf der Plattform hält.
Foto: DUKAS
Aline Wüst

Es ist keine gute Woche für Mark Zuckerberg (37). Wegen eines Konfigurationsfehlers waren seine Plattformen am Dienstag stundenlang nicht erreichbar. Zugleich wirft ihm eine ehemalige Mitarbeiterin vor, an Algorithmen festzuhalten, die Falschinformationen und Hassreden bevorzugen, weil es Nutzer länger auf der Plattform hält.

3,1 Milliarden Menschen nutzen Facebook. Je mehr Zeit sie darauf verbringen, desto mehr Geld verdient Zuckerberg. Im Umkehrschluss: In den sechs Stunden, als Facebook und Co. nicht erreichbar waren, verlor Zuckerberg rund sechs Milliarden Dollar.

Whistleblowerin Frances Haugen (37) sagt, dass Instagram Essstörungen verschlimmere und die Plattform Gedanken über Suizid und Selbstverletzung verstärke. Die Plattformen würden auch genutzt, um Sklaverei und Menschenhandel zu organisieren. Das alles dürfte Zuckerberg bekannt sein, denn was Haugen präsentiert, sind interne Studien.

Das zeigt: Mark Zuckerberg betreibt ein Geschäftsmodell, das vielen Menschen schadet. Doch wenn seine Plattformen sechs Stunden lang nicht erreichbar sind, drehen wir durch.

Was ist da los?

Hirnforscher Jäncke: «Bedauerlich, aber logisch»

Lutz Jäncke (64), Neuropsychologe an der Universität Zürich, sagt zu den Enthüllungen: «Das alles bestätigt meine Befürchtungen.» Insbesondere dass Jugendliche sich durch diese Medien gegenseitig ungünstig beeinflussen. «Bedauerlich, aber logisch», sagt der Hirnforscher. Wir Menschen seien evolutionsbiologisch nicht für diese digitale Welt geschaffen.

Zuckerberg schiesst zurück

Facebook-Chef Mark Zuckerberg wies gestern die Vorwürfe der Whistleblowerin Frances Haugen zurück. Diese hatte den Internet-Giganten beschuldigt, Profit über das Wohl der Nutzerinnen und Nutzer zu stellen. «Das ist einfach nicht wahr», schrieb Zuckerberg in einem internen E-Mail. Facebook habe vor einigen Jahren die Algorithmen so verändert, dass den Nutzern mehr Beiträge von Freunden und Familienmitgliedern statt viraler Videos angezeigt würden. Die Vorwürfe Haugens seien «zutiefst unlogisch». Facebook verdiene Geld mit Anzeigen, und kein Werbekunde würde seine Anzeigen neben schädlichen oder negativen Inhalten sehen wollen. Zudem sagte Zuckerberg, er kenne keinen Tech-Konzern, der Produkte herstelle, die Menschen wütend oder depressiv machten.

Bloomberg via Getty Images

Facebook-Chef Mark Zuckerberg wies gestern die Vorwürfe der Whistleblowerin Frances Haugen zurück. Diese hatte den Internet-Giganten beschuldigt, Profit über das Wohl der Nutzerinnen und Nutzer zu stellen. «Das ist einfach nicht wahr», schrieb Zuckerberg in einem internen E-Mail. Facebook habe vor einigen Jahren die Algorithmen so verändert, dass den Nutzern mehr Beiträge von Freunden und Familienmitgliedern statt viraler Videos angezeigt würden. Die Vorwürfe Haugens seien «zutiefst unlogisch». Facebook verdiene Geld mit Anzeigen, und kein Werbekunde würde seine Anzeigen neben schädlichen oder negativen Inhalten sehen wollen. Zudem sagte Zuckerberg, er kenne keinen Tech-Konzern, der Produkte herstelle, die Menschen wütend oder depressiv machten.

Jäncke beschäftigt sich seit längerem mit dem Einfluss des Internets auf das menschliche Gehirn, er hat in diesem Jahr ein Buch dazu publiziert («Von der Steinzeit ins Internet»). Darin erklärt er, was digitaler Konsum insbesondere von Diensten wie Facebook und Co. bei Menschen auslöst. Unser Hirn ist immer noch dasselbe wie vor Tausenden von Jahren. Es ist nicht vorbereitet für die enormen Mengen an Informationen, die seit etwa einem Jahrzehnt verfügbar sind. Zugleich seien wir Menschen ständig auf der Suche nach neuen Reizen. Das Internet und insbesondere Dienste wie Facebook befriedigen dieses Bedürfnis – wir scrollen, klicken und lassen uns durch die digitale Welt treiben.

Durch zu viel Social Media nimmt unser Mitgefühl ab

Unser Gehirn gewöhnt sich daran, sucht deshalb immer mehr davon. Damit schwächen wir unsere Fähigkeit, die Lust nach unmittelbarer Befriedigung zu kontrollieren. Dabei ist diese zentral, um auf etwas konzentriert hinzuarbeiten. Es ist, was die grossen Errungenschaften des Menschen hervorbrachte: jetzt verzichten, um in der Zukunft etwas zu erreichen. Es ist der Frontalkortex, der uns das ermöglicht. Besonders junge Menschen sind dabei in Gefahr, diese Selbstdisziplin nicht zu lernen, da ihr Frontalkortex noch in der Entwicklung ist. Ausserdem könnte die digitale Kommunikation zu einer Abstumpfung gegenüber unangenehmen Informationen führen. Die Folge: Das Mitgefühl nimmt ab.

Eine besondere Gefahr sieht Jäncke durch die zunehmende digitale Vernetzung auch in der Beeinflussbarkeit des Verhaltens. Der Grund sei einfach: «Wir Menschen sind keine Multitasker.» Je mehr Informationen wir angeboten bekommen, desto stärker konzentrieren wir uns auf aufmerksamkeitserregende Inhalte. Was heisst: emotionale Informationen. «Wir nehmen dann polarisiert und nicht differenziert wahr.»

Facebook schadet unseren Kindern

Das hat Folgen. Vor dem amerikanischen Senat sagte Whistleblowerin Haugen am Dienstag: «Ich bin heute hier, weil ich glaube, dass die Produkte von Facebook Kindern schaden, die Gesellschaft spalten und unsere Demokratie schwächen.» Das Unternehmen wisse, wie man die sozialen Netze sicherer machen könne. «Aber die Manager wollen keine Änderungen vornehmen. Ihre astronomischen Gewinne sind ihnen wichtiger als die Menschen.»

Wenn Facebook und Co. nichts tun, bleibt nur, selbst zu handeln. Jäncke sagt, dass wir uns dazu massiv ändern müssen. «Wir müssen unsere Selbstdisziplin und Aufmerksamkeit trainieren.» Der Hirnforscher rät zur täglichen Meditation. Und dazu, sich nicht von den Reizen im Internet treiben zu lassen, sondern vielmehr gezielt zu suchen und zu lesen. «Weniger ist mehr.» Wichtig ist auch, sich bewusst digitale Auszeiten zu nehmen, soziale Kontakte zu pflegen und Vertrauen und Bindungen zu echten Menschen zu pflegen.

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