››Liebes Internet
Wann ist es passiert? Wann hast du dich so breitgemacht auf meinem Sofa, dass ich selber kaum mehr Platz finde? Es muss irgendwann während der ersten Corona-Welle gewesen sein. Wir mussten zu Hause bleiben. Kontakte einschränken. Du warst mein Fenster zur Welt, mein Zeitvertreib. Plötzlich war solidarisch, wer die Tage mit dir verbrachte. Du aber hast dich verbündet mit meinem Smartphone. Weisst ganz genau, wie viel Zeit wir auch gestern wieder zusammen verbracht haben. Will ich nur kurz schauen, wann der Zug fährt, verschlingst du mich. Via Whatsapp gehe ich zu News-Portalen, lese einen Artikel über die schönsten Bergdörfer, google Soglio, nach Hotels, finde eines in Mürren, schaue, wie das Wetter wird. Unterwegs habe ich über Palmöl-Plantagen, die Scheidung von Kim Kardashian, den Hunger im Jemen gelesen, mir ein Rezept für Spaghetti mit Kopfsalat-Pesto angeschaut und nach lesenswerten albanischen Schriftstellerinnen gesucht. Eine halbe Stunde ist vorbei. Wann der Zug fährt, habe ich vergessen, schaue also nochmals. Ein Mail poppt auf. Kurz darauf scrolle ich mich durch die lustigsten Corona-Karikaturen weltweit.
Was ich dir sagen will: Das zwischen dir und mir ist aus dem Ruder gelaufen. Corona hat mich in deine Arme getrieben. Du hast mich in die Arme geschlossen. Jetzt lässt du mich nicht mehr los. Ich habe das Gefühl, ständig deinen Atem im Nacken zu spüren. Ich will ehrlich sein: Ich mag das nicht.
Ich habe mit Menschen in meinem Umfeld gesprochen. Will wissen, was die so tun mir dir.
So vertrödeln Menschen Zeit im Netz
Eine 37-Jährige schickt mir eine Sprachnachricht: «Wenn mir langweilig ist oder ich bei der Arbeit im Homeoffice nicht weiterkomme, gehe ich auf Instagram. Ein Beispiel von gerade eben: Ich sehe so einen Typ um die 60, der macht Tanzvideos, hat mehrere Millionen Follower. Ich frage mich: Kennt man den? Was macht der? Ich gehe auf sein Profil, klicke auf den Link. Dort sehe ich, dass er DJ ist. Frage mich: Wo ist der DJ? Wobei ehrlich gesagt kenne ich gar keine DJs. Sehe, er ist Italiener. Denke, ah, der ist nur dort bekannt. Gehe zurück zu Insta. Weil der Typ interessiert mich ja gar nicht. Ich schaue trotzdem noch ein Video. Sehe, dass er eine Frau oder Freundin hat, die aussieht wie 20. Wie kommt das? Gehe auf ihr Profil, sehe dass sie ein Bild mit einem Baby gepostet hat. Denke: Ist das ihr Baby? Oder von ihm? Sehe, dass sie eine Baby-Shower-Party gemacht haben. Frage mich, wie alt sie ist. Finde ein Bild mit Ballonen mit einer 26 drauf, bin fast ein bisschen stolz, dass ich ihr Alter auf diesem Weg rausgefunden habe. Höre ein Video, wo sie spanisch spricht, denke: Von wo kommt sie, wovon lebt sie? Schaue im Profil nach einem Link, komme auf eine Seite mit Kollektionen von ihr, denke: Damit machst du auch kein Geld, ist nicht so cool, vielleicht hat sie reiche Eltern. Schaue, woher sie kommt, schaue weiter. Ah, aus Venezuela. Frage mich, ob da ein Drogenbusiness involviert ist, und so weiter. So ist das ständig, ich versinke jeweils ewig und recherchiere gierig völlig sinnlose Sachen, ich komme vom einen zum anderen, sogar während ich dran bin, denke ich, das interessiert mich überhaupt nicht. Keine Ahnung also, warum ich es tue. Es zieht mich einfach so furchtbar rein, und ich muss nicht denken, weil ich das Zeug, das ich suche, gar nicht wissen will. Eigentlich würde ich besser Textnachrichten beantworten in dieser Zeit. Aber dann müsste ich denken, und darum mache ich es in diesen Momenten nicht. Am Ende des Tages fühle ich mich oft sehr, sehr trostlos.»
Eine 34-Jährige: «Ich suche im Internet immer nach Dingen. Ich kann gar nicht genau sagen, wonach. Mal nach Stühlen, mal Bikinis, mal Kerzen. Aber meistens Dinge für die Wohnung. Kürzlich suchte ich eine Vase. Ich suchte nach sämtlichen Farben und Formen auf sämtlichen Portalen. Gefiel mir eine, merkte ich sie mir nicht, markierte nichts, sondern scrollte weiter. Vase um Vase. Ich war sicher zwei Stunden am Handy wegen einer blöden Vase. Und am Ende hatte ich keine. Die Auswahl ist einfach zu gross. Danach war ich wütend, frustriert und sehr unbefriedigt.»
Einen 39-Jährigen frage ich, wie er das Internet konsumiert. Seine Antwort: «Das Internet konsumiert mich!»
«Manchmal hab ich Panik, dass jemand vom Büro meinen Suchverlauf sehen könnte»
Eine Frau: «Immer mal wieder glaube ich, ich weiss zu wenig. Dann denke ich wieder, dass ich ganz schlau bin, und google nach unbekannten Inseln, ‹Wer gegen wen im Kalten Krieg?›, ‹Wer ist Maria Stuart?›. Dann lese ich es. Wenn du mich heute danach fragst, weiss ich nichts mehr. Ich hab so viele Tabs offen im Handy, sehe ich sie Tage später wieder, denke ich: Ah, das hab ich mal nachgeschaut. Manchmal habe ich Panik, dass jemand vom Büro oder sonst wer meinen Google-Suchverlauf sehen könnte.»
Niemand sagt, dass er stundenlang Pornos schaut. Unter den Top 10 der meistbesuchten Webseiten in der Schweiz 2020 befinden sich neben Google, Facebook und News-Portalen trotzdem zwei Pornoseiten.
Eine zweifache Mutter: «Es ist 20.20 Uhr, ich komme aus dem Kinderzimmer, beide Kinder schlafen. Ich plumpse aufs Sofa, nehme das Handy. Schreibe jemandem auf Whatsapp und öffne Instagram. Ich denke: Nur kurz. Und schon ists 21.10 Uhr. Ich scrolle noch immer den Feed ab. Vielleicht schreibt auf WhatsApp noch jemand zurück. Es ist 21.20 Uhr. Es ist wie ein Stumm-Knopf. Ich muss mir dann keine Gedanken mehr machen. Das Baby hat gelernt, sich mit dem Nuggi zu beruhigen, ich mit dem Smartphone. Ich weiss eigentlich, dass es Menschen am besten geht, wenn sie ganz nah bei sich sind. Den Stumm-Knopf im Kopf zu drücken, ist das Gegenteil davon. Ich möchte abends ein Buch lesen oder Yoga machen. Wenn ich um 22 Uhr ins Bett gehe, fühle ich mich leer.»
Leer, trostlos und wütend wegen dem Internet
Internet, es scheint, als sei ich nicht allein. Auch andere wollen nicht so viel Zeit mit dir verbringen. Die fühlen sich leer und trostlos und wütend. Wegen dir!
Als du in mein Leben kamst, erklärte mir mein Bruder, wer du bist. Und zwar so: Du kannst im Internet zu allem, was du wissen willst, Informationen finden. Was für eine Verheissung! Ich sagte fortan meinem Bruder, was ich wissen will, er suchte und druckte es mir aus. Ich war begeistert!
Nun scheint es so, dass wir suchen, was wir nicht wissen wollen. Oder suchen, lesen und am Ende doch nichts wissen.
Das erscheint mir seltsam.
Ich beginne mich immer intensiver mit dir zu beschäftigen. Mir fällt auf, dass fast jeder, der über dich spricht, sagt: «Ich will das Internet nicht verteufeln.» Ich halte deshalb ordnungshalber fest, dass ich dich auch nicht verteufle, liebes Internet. Wie könnte ich, schliesslich verbringen wir zwei viel Zeit zusammen.
Anruf bei Cédric Stortz vom Fachverband Sucht, der das Internet ebenfalls nicht verteufeln will. Zahlen zu Corona und Internetnutzung gibt es noch keine, sagt er. Zwei Dinge weiss er wegen der Rückmeldungen von Fachstellen aus der ganzen Schweiz: Die Anfragen wegen Pornografie nahmen in letzter Zeit zu, das übliche Januar-Loch bei Beratungen zu problematischer Internetnutzung fiel dieses Jahr aus. Ich frage nach der Ich-scrolle/suche-ewig-Sache. Stortz redet von Medienkompetenz. Er sagt, wir leben in einer digitalen Welt, das lasse sich nicht ändern. Abstinenz sei kein gangbarer Weg. Man müsse sich andere Hobbys suchen, sich selber beschränken, Strategien anwenden. Stortz ist nicht beunruhigt. Optimistischen Fatalismus nennt er es. Sein Rat: Sich Grenzen setzen. Also beispielsweise eine begrenzte Anzahl Wikipedia-Artikel lesen, den Instagram-Konsum geniessen, um nachher wieder draussen etwas machen zu können, nach einer Folge Netflix abschalten.
Moment mal – das ist doch genau das Problem. Alle planen, nach einer Folge abzuschalten, die meisten schauen nach Mitternacht trotzdem noch.
Das sei Addiction by design, sagt Stortz. Zu Deutsch etwa: Ist extra so gemacht, damit es süchtig macht. Um Geld zu verdienen, nutzen Tech-Firmen unsere menschliche Verletzlichkeit.
Es ist absurd. Ausgerechnet an diesem Punkt besiegst du mich. Ich will alles über Addiction by design wissen, suche ehrlich interessiert, gerate aber ständig an Orte, an die ich nie zu gehen gedachte. Unzählige Male kehre ich mühsam wieder zurück – und schaue mir kurz darauf doch tatsächlich ein Video an, in dem gezeigt wird, wie sich René Zellwegers Gesicht über die Jahre verändert haben soll – auf Spanisch!
Hirnspezialist: «Wir werden zu Sklaven der Reize»
Fertig, denke ich und schreibe Lutz Jäncke ein Mail. Er ist Hirnforscher an der Universität Zürich und freut sich über meine Nachricht. Denn der Professor hat intensiv über all das nachgedacht, seine Erkenntnisse in ein Buch gepackt, das in Kürze erscheinen wird. Wir skypen.
Jäncke beruhigt mich erst mal: «Das ist ein klassisches Phänomen. Wir setzen uns vor Google hin, tippen etwas ein und merken nach drei Stunden, dass wir irgendwo angekommen sind, wo wir gar nicht hinwollten.» Der Grund sei, dass wir im Internet unfassbar viele überwältigend interessante Informationen finden. Unser Hirn sei nicht für die Flut dieser Reize und Informationen gemacht. Wir stolperten also von einem interessanten Punkt zum nächsten. Die Folge? «Wir werden zu Sklaven der Reize.»
Die Evolution hat es umgekehrt geplant: Unser Gehirn steuert die Reize und damit unser Verhalten. Dazu brauchen wir Selbstdisziplin. «Wir widerstehen der unmittelbaren Belohnung für etwas Längerfristiges, das wertvoll ist.» Es sei der Schlüssel zu akademischem, beruflichem und sozialem Erfolg. Delay of gratification nennt sich das – Aufschub der Belohnung. Es ist, was uns zu Menschen macht, so Jäncke. Zwei Beispiele: Wir studieren vier Jahre lang, um ein Diplom zu bekommen. Wir machen das, obwohl wir nicht wissen, ob wir das Diplom wirklich erlangen werden. Wir kochen drei Stunden lang ein aufwendiges Gericht. Ohne zu wissen, ob es gelingt. Gesteuert wird solche Selbstdisziplin vom Frontalkortex.
Werden wir zu Menschen, die nur noch lustgesteuert sind?
Nun ist es so, dass wir Menschen hedonistische Wesen sind. Befriedigt zu werden, ist einer unserer mächtigsten Antriebe. Doch je häufiger wir unsere Selbstdisziplin nicht einsetzen, um unsere Lust zu kontrollieren, «desto mehr werden wir getrieben von den Emotionszentren tief im Innern des Gehirns». Nutzen wir den Frontalkortex nicht, degenerieren diese Zellen, sagt Jäncke. Die Folge: «Wir werden zu Lustwesen.» Der Neuropsychologe stellt sich nun die Frage: Was passiert mit einer Wohlstandsgesellschaft, die zunehmend ihren Lüsten nachgibt, nur noch vor Bildschirmen sitzt und sich nicht anstrengt? Die Antwort sei reine Spekulation. Und doch liege es nahe, dass das gravierende Folgen für die Demokratie, ja die ganze Menschheit haben könnte.
Manche Menschen würden diese Veränderungen unterschwellig bemerken, sagt Jäncke. Die grosse Masse aber reflektiere das nicht. «Das bereitet mir die grössten Sorgen, dass die meisten Menschen da einfach so reinschlittern.» Einerseits wir Erwachsenen, noch mehr aber junge Leute, die in der digitalen Welt aufwachsen. Ihr Frontalkortex ist noch nicht richtig ausgebildet. Welche Auswirkungen wird das auf ihre Selbstregulierung haben?
Jäncke sagt: «Ich will das Internet nicht verteufeln.» Aber er sagt auch: «Ich sehe da ein grosses Problem auf uns zurauschen.»
Internet, eine meiner klugen Freundinnen hat nach einem Gespräch über das ständige Zusammensein mit dir gesagt: «Ich habe das Gefühl, das Leben zieht an mir vorbei.»
Das hat mich zum Nachdenken gebracht. Ausserdem weiss ich nun, was du mit meinem Frontalkortex anrichtest. Du bist toll, Internet, verstehe mich nicht falsch. Aber im Mass. Darum wird sich das mit dir und mir nun ändern. Mehr Zeit für mich, viel weniger für dich. Erste Massnahmen habe ich bereits ergriffen: Mein Display ist schwarz/weiss eingestellt, alle Push-Funktionen ausgeschaltet, ausserdem habe ich nun einen Wecker. Du schläfst ab sofort auf der Couch.