Gemeindepräsidentin von Cevio über die Unwetter
«Das Wasser riss Cousinen und Freunde aus unserer Mitte»

Die Armee arbeitet mit Hochdruck an der Erstellung einer Unterstützungsbrücke in Cevio. Gemeindepräsidentin Wanda Dadò hofft, dass sich die ganze Schweiz solidarisch zeigt. Allein könne man diese Krise nicht stemmen.
Publiziert: 14.07.2024 um 00:01 Uhr
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Aktualisiert: 14.07.2024 um 12:17 Uhr
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Schweres Gerät und ein enger Zeitplan: Die Armee baut bei Cevio eine Unterstützungsbrücke.
Foto: keystone-sda.ch
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Peter AeschlimannRedaktor

In Cevio TI hat die Armee mit dem Bau einer provisorischen Brücke begonnen. Die verheerenden Unwetter Ende Juni hatten die Visletto-Brücke zerstört und das obere vom unteren Maggiatal abgeschnitten. Die rund 60 Meter lange Konstruktion könnte laut Sébastien Neuhaus, dem Kommandanten des Katastrophenhilfe-Bereitschaftsbataillons, innert sieben Tage stehen – sofern das Wetter mitspielt und die Vorbereitung des Geländes gut voranschreitet. Bis Sonntag hatte Meteo Schweiz eine Unwetterwarnung der Stufe 4 erlassen. Das Handy von Wanda Dadò, der Gemeindepräsidentin von Cevio, klingelt pausenlos. Trotzdem findet die Krisenmanagerin Zeit für ein Gespräch mit SonntagsBlick in ihrem Büro im Gemeindehaus.

Ersatz der zerstörten Visletto-Brücke schreitet voran
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Armee-Einsatz im Maggiatal:Ersatz der zerstörten Visletto-Brücke schreitet voran

Frau Dadò, die zerstörte Visletto-Brücke ist zum Symbol der Unwetterkatastrophe im Maggiatal geworden. Wann ist sie wieder befahrbar?
Wanda Dadò: Ich rechne mit ein paar Wochen Aufbauzeit für die provisorische Brücke. Wenn alles nach Plan verläuft und das Wetter mitspielt, schafft es das Militär auch in sieben Tagen.

Warum ist diese Brücke so wichtig für das Maggiatal?
Weil diese Route die einzige Möglichkeit ist, das obere Maggiatal mit dem Auto zu erreichen. Die Brücke verbindet uns mit dem Rest des Tals, mit der Schweiz – und mit der ganzen Welt. Pendler, Handwerker, Pöstler und Touristen passieren dieses Nadelöhr. Im oberen Maggiatal gibt es Firmen, Steinbrüche oder Grotti, die das Unwetter verschont hat. Sie sind darauf angewiesen, mit ihren Mitarbeitenden den Betrieb bald wieder aufnehmen zu können.

Wie haben Sie persönlich das Unwetter vor zwei Wochen im Maggiatal erlebt?
Am Vorabend gab es eine Unwetterwarnung der Stufe 4. Ich wusste also, dass es in der Nacht stark regnen würde. Das ist zunächst nichts Ungewöhnliches für diese Region. Am Morgen hörte ich dann aber Helikopter über meinem Haus in Cavergno, es gab kein Wasser mehr und keinen Strom. Telefon- und Mobilfunknetz waren ausgefallen. Mein Handy zeigte einen Anruf in Abwesenheit an. Mitten in der Nacht hatte jemand aus meiner Gemeinde versucht, mich zu erreichen. Da wurde mir schlagartig klar, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.

Was haben Sie dann unternommen?
Nachdem ich es geschafft hatte, das elektrische Garagentor von Hand zu öffnen, bin ich nach Cevio gefahren. Dort, bei der zerstörten Brücke, hatten Feuerwehr und Kantonspolizei bereits einen Stützpunkt eingerichtet. Die Leute erzählten mir vom Ausmass der Katastrophe, von Menschen, die vermisst würden. Ich wusste, dass mein Sohn an einem Fussballturnier im schwer getroffenen Lavizzaratal teilgenommen hatte.

Konnte er sich rechtzeitig in Sicherheit bringen?
Was ich nicht wusste, war, dass er sich mit seiner Freundin zum Haus ihrer Familie am Piano di Peccia begeben hatte, um dort die Nacht zu verbringen. Sie wurden vor der Unterbrechung der Mobilfunkverbindung vor der Gefahr gewarnt. Als sie die Fenster öffneten und sahen, wie Wasser und Trümmer auf beiden Seiten des Hauses herunterliefen, bekamen sie Angst. Sie beschlossen, zu Fuss zum Haus eines Verwandten in der Gegend zu fliehen, das sie für sicherer hielten. Am Abend wurden sie dann mit einem Helikopter evakuiert. Zum Glück sind alle gesund.

Ein junger Mann, der ebenfalls an diesem Turnier teilnahm, gilt immer noch als vermisst.
Er ist in Cavergno aufgewachsen, alle hier kennen ihn und seine Familie. Das geht mir sehr nahe. Es sind Cousinen und Freunde, die vom Wasser aus unserer Mitte gerissen wurden. Jetzt hoffen wir, dass alle Opfer dieser Tragödie doch noch gefunden werden. Die Behörden haben allerdings die Suche eingestellt, das Gebiet ist einfach zu gross.

Welche Schicksale haben Sie besonders berührt?
Menschen wurden Zeugen davon, wie andere gleich neben ihnen von der Flut weggetragen wurden. Das sind traumatische Erlebnisse. Leute blieben in ihren Häusern, die von den Wassermassen fast komplett zerstört wurden. Für die Angehörigen der Opfer und für sämtliche Überlebende dieser Katastrophe ist es ein grosses Drama. Viele haben alles verloren, ihre Heimat, ihre Existenz. Bauern sahen, wie ihre Ställe weggespült wurden, ihre Tiere ums Leben kamen. Die Verzweiflung ist riesengross.

Wie verliert man angesichts der immensen Zerstörung nicht die Hoffnung?
Die Bevölkerung in den Tälern ist sehr geeint. Und wir spüren viel Rückhalt von der restlichen Schweiz. Alle lieben diese Gegend. Deshalb ist es unsere Pflicht, diesen Ort wieder zu dem zu machen, was er einmal war.

Es gibt aber auch Stimmen, die jetzt fordern, bestimmte Täler aufzugeben.
Das sind Menschen, die noch nie im Bavonatal waren. Wir aber wohnen hier! Während der Pandemie sind viele Familien zu uns gezogen, weil die Lebensqualität so hoch ist. Und nebenbei produzieren wir im Maggiatal auch sauberen Strom für die ganze Schweiz. Der Bund plant, den Sambucco-Stausee von 130 auf 145 Meter zu erhöhen. Kurz: Wir geben der Schweiz sehr viel – im Gegenzug sind wir jetzt auf Solidarität angewiesen.

Der Erdrutsch in Fontana ist gewaltig. Wie will man jemals all dieses Material aus dem Tal schaffen?
Vielleicht muss man das ja gar nicht. Das Bavonatal wird seit Jahrhunderten von Felsen geprägt. Auf besonders grossen Steinen, die früher ins Tal donnerten, legten die Bewohner sogar kleine Anbauflächen an. In den nächsten Tagen beginnt der Bau einer provisorischen Verbindungsstrasse. Es wird viel Zeit benötigen, eine gute und sichere Lösung für Fontana zu finden. Aber ich bin zuversichtlich, dass uns dies gelingen wird.

Sie wurden im April für vier Jahre zur Gemeindepräsidentin von Cevio gewählt. Jetzt stehen Sie vor einer Lebensaufgabe …
Normalerweise beschäftigt mich diese Arbeit zwei Tage pro Woche. Nach dem verheerenden Unwetter war ich kaum jemals zu Hause. Seit letztem Montag zwinge ich mich zu einem gesünderen Rhythmus mit etwas mehr Schlaf. Klar: Niemand rechnet mit so einer Katastrophe. Wenn wir aus dem Krisenmodus raus sind, werden wir mit der Planung des Wiederaufbaus beginnen, mit unserer Zukunft. Es gibt so viel zu tun!

Können Sie die Schäden beziffern, die das Unwetter im Bavonatal und im Lavizzaratal angerichtet hat?
Das ist derzeit unmöglich. Um das genaue Ausmass der Schäden einschätzen zu können, müssen wir zuerst sämtliche betroffenen Gebiete erschliessen.

Wie viel wurde bislang gespendet für Ihre Initiative «Ricostruiamo Insieme»?
Wir erhalten viele Solidaritätsschreiben und Spenden. Wie wir das Geld verwenden, ist noch nicht entschieden. Zunächst muss geprüft werden, wo die Versicherungen Schäden übernehmen, wo der Bund oder der Kanton hilft. Sicher ist nur, dass wir allein finanziell nicht dazu in der Lage sind, diese Krise zu stemmen. Jede Spende hilft uns also dabei, unsere Leben zurückzubekommen.

Wie erleben Sie die Solidarität der Schweizer Bevölkerung?
Diese Solidarität zu spüren, gibt uns sehr viel Kraft. Zu wissen, dass viele Schweizerinnen und Schweizer bald wieder zu uns kommen wollen, hilft gegen das Gefühl der Trauer. Wir haben jetzt alle ein gemeinsames Ziel: den Wiederaufbau.

Die Bundesräte Ignazio Cassis und Viola Amherd waren nach dem Unwetter bei Ihnen. Reichen diese Solidaritätsbesuche? Oder haben Sie Angst, bald wieder in Vergessenheit zu geraten?
Diese Befürchtung gibt es durchaus. Was ich aber derzeit sehe, sind schier unglaubliche Anstrengungen beim Bau der provisorischen Brücke in Cevio. Man hat uns von Seiten der Armee in Aussicht gestellt, das Bavonatal bald wieder befahren zu können. Der Bundesrat versprach schnelle Hilfe – und er hielt Wort.

Sie sind derzeit ständig unterwegs, um diese Krise zu managen. Gibt es für Sie in diesem Jahr überhaupt Sommerferien?
Ich habe keine Ferien geplant, aber das ist nicht wichtig. Ich lebe hier sehr gut. Ursprünglich dachte ich, ich verbringe ein paar Tage mit meiner Tochter in Biel. Wir haben uns lange nicht gesehen. Kürzlich beklagte sie sich, sie höre ihre Mutter öfter im Radio als am Telefon. Bei nächster Gelegenheit werden wir das nachholen. Dafür, dass wir das können, bin ich sehr dankbar. Wir haben überlebt. Andere hatten weniger Glück.

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