Sie ist 33 Jahre alt, Mutter eines 19-jährigen Sohns und zweier minderjähriger Kinder. Vor einigen Monaten ist sie aus Afghanistan in die Schweiz geflüchtet. Hier in der neuen Heimat will sie sich befreien. Aus der Ehe, die sie im Alter von 14 Jahren schliessen musste. Mit einem weitaus älteren Mann, den die Familie für sie ausgesucht hatte. Und von dem sie schon als Teenager schwanger wurde.
Gezwungen zur Heirat, will sich die Frau nun in der Schweiz scheiden lassen. Mit allen Konsequenzen: Ihr Mann willigt nicht ein, will die Kinder an sich binden. Die Familie in Afghanistan lässt ihr Todesdrohungen zukommen und wirft ihr vor, fremdzugehen.
Dennoch sagte die Frau ihrem Berater bei der Fachstelle Zwangsheirat, wo sie Hilfe suchte: «Ich will diesen Mann nicht.» Der Partner habe die Welt nicht mehr verstanden, sagt Anu Sivaganesan, die Präsidentin der Fachstelle. Sie steht der verzweifelten Frau bei, hilft ihr, einen Ausweg zu finden.
Zusehends Frauen mit Kindern
Die Afghanin weiss weder ein noch aus, ist depressiv und suizidgefährdet. Was passiert mit den Kindern? Wie kann sie dem erzürnten Ehemann und den eigenen Eltern aus dem Weg gehen?
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Vermehrt würden sich über 30-jährige Mütter an die Fachstelle wenden, um unfreiwilligen Ehen zu entfliehen, sagt Anu Sivaganesan. Während die Fachstelle in früheren Jahren zum grössten Teil um die 20 Jahre alte Frauen und minderjährige Zwangsverheiratete beriet, kämen nun öfter Betroffene, die schon viele Jahre vermählt waren.
Das liegt laut Sivaganesan daran, dass sie erst hier in der Schweiz Auswege aus der ungewollten Ehe sehen. Doch bis eine Scheidung vollzogen sei, daure es etwa zwei Jahre, wenn der Mann nicht einwilligt, sagt Sivaganesan. «Das ist in dieser Situation eine enorm lange Zeit.» Umso mehr, als manche der Frauen in der Partnerschaft Gewalt erlebten und es mit gemeinsamen Kindern noch schwieriger sei, die Ehe aufzulösen.
Die drohende Ächtung vom Umfeld und die Perspektive, verstossen zu werden, hielten viele Frauen davon ab, mit der Familie zu brechen, stellt Sivaganesan fest. So verlässt laut den Zahlen der Fachstelle nur jede sechste Zwangsverheiratete ihre Herkunftsfamilie.
Als Mädchen verheiratet
Im vergangenen Jahr betreute die Fachstelle Zwangsheirat 337 Betroffene, wie die Statistik zeigt. Die Zahl der Fälle ist seit mehreren Jahren konstant. Veränderungen zeigen sich ausser beim Alter der Frauen in ihrer Herkunft: Über 40 Prozent von ihnen kommen aus dem Asylbereich, vermählt wurden sie mehrheitlich in ihrer früheren Heimat, viele bereits als Mädchen. 2022 waren erst 25 Prozent der Betroffenen Asylsuchende, die frappante Zunahme erklärt Sivaganesan damit, dass immer mehr geflüchtete Afghaninnen die Fachstelle aufsuchten. Dieses Herkunftsland steht an erster Stelle der betreuten Fälle. Auch aus Syrien und dem Irak stammen viele Betroffene. In früheren Jahren waren jeweils vor allem albanisch sprechende Frauen zweiter Generation, die in der Schweiz geboren und aufgewachsen waren, an die Fachstelle gelangt.
Sivaganesan geht davon aus, dass die Dunkelziffer nach wie vor beträchtlich ist und sich längst nicht alle der Zwangsverheirateten zur Wehr setzen. Obwohl Zwangs- und Minderjährigenheiraten in der Schweiz verboten sind, kommt es zudem nur in den wenigsten Fällen zu Strafverfahren. «Juristische Verfahren machen nicht einmal ein Prozent der gemeldeten erzwungenen Ehen aus», sagt Sivaganesan.
Parlament will Gesetzeslücke schliessen
Am Montag berät der Nationalrat über ein neues Gesetz, das Minderjährigen- und Zwangsheiraten verhindern beziehungsweise effizient ahnden lässt. In der Vorlage schlägt der Bundesrat als zentrales Element vor, die Klagefrist anzupassen, in der eine Ehe für ungültig erklärt werden kann. Künftig sollen hier lebende im Minderjährigen-Alter Vermählte und Behörden eine Heirat anfechten können, bis die beiden Partner 25 Jahre alt sind. Bisher war ihnen das nur bis zum 18. Altersjahr möglich.