Die Schweizer Volksschule hat sich in den letzten Jahren neu erfunden. Sie hat den Unterricht digitalisiert. Bücher und Hefte durch iPads ersetzt. Altersstufen zusammengelegt. Integrative Förderung etabliert. Kleinklassen abgeschafft. Migranten, Hochbegabte und Lernschwache in ein und derselben Klasse untergebracht.
Doch die Revolution stiftet Verunsicherung. Eltern fürchten um die Bildung ihres Nachwuchses, suchen nach Alternativen. «Sie haben Angst, dass ihre Kinder an der öffentlichen Schule nicht genügend gefördert werden – und schicken sie vermehrt an Privatschulen», sagt Markus Fischer, Generalsekretär des Verbandes Schweizerischer Privatschulen (VSP), zu BLICK.
Anteil Privatschüler verdoppelt
Das Vertrauen in die Volksschule schwindet. Gleichzeitig schiessen vor allem in den wirtschaftsstarken Regionen Privatschulen aus dem Boden. Seit der Jahrtausendwende hat sich der Anteil Privatschüler im Kanton Zürich von 3,7 auf 6,5 Prozent fast verdoppelt, in Basel stieg er von 9,3 auf 12,5, in Genf von 10,9 auf 16,1 und in Zug sogar von 3,9 auf 11,5 Prozent.
Schweizer Privatschulen versprechen enge Lehrer-Kind-Beziehungen, individuelle Förderung und bieten kleine Klassen. Klingt verlockend, hat aber seinen Preis.
Familie Pfister aus Erlenbach ZH hat im vergangenen Schuljahr rund 30'000 Franken ausgegeben, damit Sohn Lars (17) das Gymnasium besuchen kann. Mutter Susanne Pfister (52) ist überzeugt: «Das war jeden Rappen wert!»
Schon mit sechs schwänzte er die Schule
Lars besucht eine Mittelschulvorbereitungsklasse beim Lernstudio in Zürich. Während einem halben Jahr hat er sich intensiv auf die Gymiprüfung vorbereitet, gemeinsam mit 15 anderen Schülern. Das, nachdem Lars vergangenen Frühling die Lehre als Schreiner abgebrochen hatte. «Es ging mir damals sehr schlecht, ich hatte das Gefühl, ich sei nur ein Statist in meinem eigenen Leben», sagt er.
Bereits mit vier Jahren konnte Lars schreiben und lesen. In der öffentlichen Schule kam er trotzdem nie klar. Seine Lehrer förderten ihn kaum, in der Masse ging er unter. «An der Volksschule verging mir die Freude am Lernen. Schon in der ersten Klasse schwänzte ich den Unterricht, ging stattdessen auf den Spielplatz», erzählt er.
Nach der Primarstufe wechselte er ans Erste Gymnasium – und rutschte innerhalb von eineinhalb Jahren über die Sek A bis in die Sekundarstufe B ab. Bücherweise Stoff auswendig büffeln, das Gefühl, nur einer von vielen zu sein – für Lars völlig ungewohnt. «Ich sah einfach den Sinn nicht dahinter, verstand nicht, wieso ich mir das antun soll.»
«Er kam immer niedergeschlagen nach Hause»
Seine Mutter sagt: «Das hat mich unglaublich traurig gemacht. Auch weil Lars immer niedergeschlagen nach Hause kam.» Erst während der Schreinerlehre wurde dem Jugendlichen bewusst, dass er eigentlich lernen möchte. «Mein Gehirn war damals völlig unterfordert. Ich bereute bitter, dass ich das Gymi abgebrochen hatte», sagt er.
Experte Markus Fischer vom Privatschulverband bekräftigt, es seien hauptsächlich solche über- oder unterforderte Minderheiten, die von der Volksschule an die Privatschule übertreten. Familie Pfister beschloss im Frühjahr 2018, Lars im Lernstudio anzumelden. «Die Privatschule war seine letzte Möglichkeit, doch noch den Sprung ins Gymi zu schaffen», erklärt Susanne Pfister.
Privatschulen wie das Lernstudio setzten auf fokussiertes Lernen in kleinen Klassen. Das Niveau der Kinder in einer Klasse ist etwa dasselbe. Schulleiter David Tassi betont: «So kommen unsere Schüler schneller voran und erreichen ihre Ziele.»
Schüler stammen aus reichen Familien
Unter der Sonderbehandlung für Einzelne leidet die Durchmischung: An Privatschulen werden wegen der hohen Kosten vor allem Schüler aus der oberen Mittel- und der Oberschicht unterrichtet. Viele stammen aus Akademikerfamilien. Die Volksschule dagegen will keine solchen «homogenen» Klassen. Sie setzt mit der integrativen Förderung auf einen sozialen und kulturellen Mix der Schüler. Das ermöglicht gleiche Bildung für alle – egal aus welcher Schicht, egal mit welchem Hintergrund.
Privatschüler hingegen verbringen ihr schulisches Leben in einer Blase, ausschliesslich umgeben von Kindern mit ähnlicher sozialer Herkunft.
Auch Lars' Mutter, selbst Lehrerin an der Volksschule, steht dem kritisch gegenüber: «Gerade für die Sozialkompetenzen der Kinder sind durchmischte Klassen förderlich.» Zu bemängeln sei aber, dass nicht genügend Ressourcen vorhanden seien, um das Konzept umzusetzen. «Es wären mindestens zwei Lehrpersonen pro Klasse nötig, um den Kindern gerecht zu werden. In der Praxis ist es trotzdem häufig nur eine», sagt sie.
Keine Lehrer, kein Geld
Seit Jahren versucht die Volksschule erfolglos, den Bedarf an Lehrern mit heilpädagogischer Zusatzausbildung zu decken. Diese sollten sich eigentlich um jene Schüler mit besonderem Förderungsbedarf kümmern, also um die verhaltensauffälligen, begabten oder lernschwachen Kinder.
Beat Zemp, Präsident des Schweizer Lehrerverbandes, bestätigt: «90 Prozent aller Schulleiter sagen in der neusten Umfrage, dass sie die offenen Stellen für schulische Heilpädagogik nicht besetzen können.» Idealerweise sollte jede Klasse von einer Lehrperson und einem Heilpädagogen unterrichtet werden. Doch neben dem Personal mangelt es dazu auch an Geld. Zemp warnt ausserdem, dass die Bedeutung durchmischter Klassen für die soziale Entwicklung der Kinder häufig unterschätzt werde. «Die integrative Schule lehrt sie schon früh, mit anderen Kindern auszukommen und sich sozial zu integrieren.»
Für Lars Pfister hat sich der Wechsel an die Privatschule am Ende bewährt. Im Frühling hat er die Gymiprüfung bestanden, besucht ab Sommer das Kurzzeitgymnasium der Kantonsschule Enge. Eine öffentliche Schule. Bedenken? Lars schüttelt den Kopf: «Dieses Mal bin ich bereit – und motiviert.»