In grüner Jacke, türkisfarbenem Pulli und einem Hemd in warmen Erdtönen streift Thomas Wirth (49), Biodiversitätsexperte der Umweltstiftung WWF, gut getarnt durch das Naturschutzgebiet in der Nähe seines Wohnorts in Hombrechtikon ZH. Auf viele Insekten trifft er bei seinem Spaziergang zwischen Bäumen und Sträuchern trotzdem nicht – der strömende Regen an diesem Tag hat sie vertrieben. Aber auch sonst krabbelt und wuselt es in der Schweiz nicht mehr wie einst ...
BLICK: Eine aktuelle Studie der Uni Basel liefert einen weiteren Beweis für das Insektensterben in der Schweiz: Die Zahl der insektenfressenden Kreuzspinnen in der Schweiz hat in den letzten 40 Jahren drastisch abgenommen – weil sie nicht mehr genügend Futter finden.
Thomas Wirth: Das verwundert mich nicht. Das Insektensterben in der Schweiz ist sehr schlimm. Im Vergleich zu den anderen OECD-Ländern haben wir hierzulande den höchsten Anteil an bedrohten Arten. So sind zum Beispiel mehr als die Hälfte aller Wildbienen vom Aussterben bedroht.
Warum ist es ausgerechnet in der Schweiz so schlimm?
Man muss festhalten, dass es auf der ganzen Welt einen Rückgang von Insekten gibt. Im Vergleich mit anderen Ländern sind Insekten bei uns aber tendenziell einer grösseren Bedrohung ausgesetzt – wir nutzen Landschaft sehr intensiv, und Insekten haben weniger Raum. Probleme sind auch die immer grösser werdenden Siedlungsgebiete, die Verbauung von Gewässern und die Lichtverschmutzung.
Die wichtigste Ursache für das Insektensterben ist aber eine andere.
Das Hauptproblem ist die ausgesprochen intensive Landwirtschaft. Unser Pestizideinsatz ist wesentlich höher als jener in Deutschland oder Österreich. Und unser Stickstoffüberschuss in Form von Gülle ist der zweithöchste in Europa. Hinzu kommt, dass es durch die Intensivierung der Landwirtschaft an Lebensraum für die Insekten fehlt.
Aber seien wir mal ehrlich: Nicht viele Menschen mögen Insekten – und sind vielleicht sogar froh, wenn es weniger gibt. Warum sollten wir sie überhaupt schützen?
Ganz einfach: Sie sind wichtig für unsere Ökosysteme. Und aus der Forschung wissen wir, dass ein vielfältiges Ökosystem produkti ver und stabiler ist und besser mit Störungen umgehen kann. Je mehr Arten verschwinden, desto anfälliger wird das System.
Welche Rolle haben Insekten denn im Ökosystem?
Verschiedene. Die bekannteste ist die Bestäubung. Es ist mittlerweile wohl allen bewusst, dass es ohne Bestäubung durch Insekten keine Äpfel, Kirschen und Co. mehr gäbe. Hinzu kommt, dass die Nützlinge unter den Insekten wichtig sind für die Bekämpfung von Schädlingen. Und dann haben Insekten auch eine wichtige Rolle im Nährstoffkreislauf.
Was heisst das?
Wenn ein Tier stirbt, sind Insekten häufig die Ersten, die den Kadaver abbauen. Sie sorgen dafür, dass die Nährstoffe des verstorbenen Tieres in den Kreislauf zurückkehren und dem nächsten Lebewesen zur Verfügung stehen. Ohne Insekten bricht der Nährstoffkreislauf zusammen – dann funktioniert gar nichts mehr.
Mit Folgen für uns.
Genau. Wir sind auf gesunde und stabile Ökosysteme angewiesen, denn sie bieten uns vielfältige Leistungen wie sauberes Trinkwasser, Luftfilterung, Schutz vor Naturgefahren und eine gesicherte Nahrungsmittelproduktion. Das Risiko, dass die Ökosysteme zusammenbrechen, steigt aber mit jeder Art, die verschwindet, und mit jedem Tag, an dem wir nichts dagegen tun. Ohne funktionierende Ökosysteme bricht nicht nur unsere Wirtschaft zusammen, sondern am Ende auch unsere Gesellschaft. Die Insekten brauchen den Menschen also nicht zu ihrem Überleben, die Menschheit sie aber schon.
Und was können wir hier in der Schweiz gegen das Insektensterben tun?
Wir müssen den Druck auf die Natur reduzieren und die verbleibenden natürlichen Ökosysteme besser vernetzen. Ausserdem gilt es, den Pestizideinsatz zu reduzieren. Und wir müssen dringend den Nutztierbestand verkleinern, um den zu hohen Stickstoffeintrag in die Natur zu reduzieren.
Heisst das, wir sollten den Insekten zuliebe weniger Fleisch, Eier und Käse essen?
Ja, auch im Hinblick auf unsere Gesundheit und das Klima. Wir können all die Tiere auf unseren Bauernhöfen nur dank des massiven Imports von Kraftfutter ernähren. Mit dem ausländischen Futter aber importiert die Schweiz auch sehr hohe Mengen an Nährstoffen, vor allem Stickstoff. Dieser landet als Gülle in der Umwelt und belastet Böden, Gewässer und Wälder – nur um «Schweizer» Fleisch zu essen. Das geht nicht.