Mikroklima beeinflusst Biodiversität
Jeder Wald hat seinen eigenen Klimawandel

Das lokale Klima in einem Wald unterscheidet sich von dem im Umland. Für die Ökosysteme ist dieses Mikroklima von grosser Bedeutung – sogar wichtiger als der grossflächige Klimawandel.
Publiziert: 28.05.2020 um 10:15 Uhr
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Aktualisiert: 19.06.2020 um 14:05 Uhr
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Der Klimawandel zwingt Pflanzen, sich neue Lebensräume zu erschliessen.
Foto: imago images/Jan Eifert
Henrike Wiemker @higgsmag

Wer im Sommer im Wald spaziert, merkt sofort dessen Wirkung: Es ist kühler zwischen den Bäumen, manchmal ist auch die Luft feuchter. Wie kühl und wie feucht es in einem Wald ist, das hängt von der Dichte des Blätterdachs, dem Gelände und weiteren Faktoren ab. Und: Das Mikroklima bestimmt, welche Tiere und Pflanzen im Wald leben – oder überleben. Zu dem Ergebnis kommt ein Forschungsteam unter der Leitung der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) in einer aktuellen Studie im Fachmagazin «Science».

Weil sich das globale Klima verändert, müssen sich viele Tiere und Pflanzen an neue Bedingungen anpassen. Zum Beispiel, indem sie weiter nach Norden oder in höhere Lagen wandern. Das lokale Klima in einem Wald, das sogenannte Mikroklima, kann diesen Wanderungsprozess erleichtern oder erschweren. Damit ist es sogar wichtiger für die Ökosysteme als der grossflächige Klimawandel, wie die Autoren schreiben. Der Wald ist also ein Schlüsselfaktor für intakte Ökosysteme.

Zwischen 12 und 66 Jahren

Die Forschenden haben an knapp 100 Standorten in temperierten Laub- und Mischwäldern in Europa das Mikroklima überwacht und die Daten mit grossflächigen Klimadaten und Vegetationsbeobachtungen von 2955 Standorten in Verbindung gebracht. 37 Messpunkte lagen im Schweizer Jura, die meisten von ihnen in Buchenwäldern. Eine regionale Analyse der Daten fand aber nicht statt, sodass sich über die Veränderungen speziell in der Schweiz keine Aussagen machen lassen.

Die Verbreitung der Pflanzen beobachteten die Forscher, indem sie die Vegetation auf Testflächen zu jeweils zwei Zeitpunkten mit Abständen zwischen 12 und 66 Jahren dokumentierten. Mithilfe von Daten zu den optimalen Wachstumstemperaturen von knapp 1000 Arten konnten sie so feststellen, ob sich die Artzusammensetzung in Richtung wärmeliebender Arten verändert hatte.

Die «Klimaschuld»

Weil die Anpassung der Pflanzen an neue Bedingungen nicht von heute auf morgen geschieht, hinken die Pflanzen dem Klimawandel gewissermassen hinterher, die Forschenden sprechen von «Klimaschuld». Diese Klimaschuld lässt sich durch die Veränderung des grossflächigen Klimas nicht genau erklären, wohl aber durchs Mikroklima.

Wo der Wald spärlicher wurde, erwärmte sich das Mikroklima am stärksten, weil der Puffer durch die Bäume wegfiel. Entsprechend änderte sich die Zusammensetzung der Pflanzen.

Wo der Wald hingegen dichter wurde, war der Kühlungseffekt grösser, und das Mikroklima erwärmte sich weniger stark. Wie sich der Wald entwickelt, ist also für die lokalen Ökosysteme und die Biodiversität entscheidend.

Auch in der Forstwirtschaft Bäume stehen lassen

In der Forschung hat dieser Effekt bisher wenig Beachtung gefunden, Klimadaten werden meist an standardisierten Messpunkten ein bis zwei Meter über kurzem Gras erhoben. «Solange wir nicht genau wissen, wie sich das lokale Klima entwickelt, können wir den Einfluss des Klimawandels auf die Biodiversität auch nicht genau abschätzen», stellt Florian Zellweger fest, Wissenschaftler an der WSL und Erstautor der Studie.

Die aktuelle Studie liefert erste Erkenntnisse, die unter anderem für die Waldwirtschaft von Bedeutung sind. «Um den Einfluss des Klimawandels auf die Biodiversität zu verringern, sollte bei forstlichen Eingriffen ein Teil der Bäume stehen gelassen werden», findet Zellweger. «Damit werden die Temperaturextreme weiterhin teilweise abgedämpft, und viele Arten haben es leichter, sich an das neue Mikroklima anzupassen.»

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