Silva Lieberherr, Ihr Leben dreht sich um Kleinbäuerinnen und Kleinbauern. Weshalb?
Silva Lieberherr: Weil sie einen grossen Teil der Weltbevölkerung ernähren. Wir hören selten von ihnen. Aber sie sind zentral für unsere Ernährung.
Was treibt Sie an?
Mich lässt die Frage nicht los, weshalb auf dieser Welt 800 Millionen Menschen hungern, obwohl es genug Nahrung für alle gäbe. Deshalb habe ich auch Landwirtschaft studiert.
Haben Sie eine Antwort gefunden?
Ja.
Gehen wir zuerst nach Indien. Dort haben Sie viele Monate verbracht.
In Indien haben in den letzten 20 Jahren fast 300'000 Bauern Suizid begangen. Mich beschäftigte das, und ich habe deshalb zu ländlichen, sozialen Bewegungen in Indien promoviert. Dass sich Bauern das Leben nehmen, sehen wir auch in der Schweiz oder in Frankreich immer häufiger. Die Gründe sind ähnlich wie in Indien.
Und zwar?
Es ist dieses Gefühl, tagein, tagaus hart zu arbeiten, während der Schuldenberg trotzdem weiter wächst. Das ist Ausdruck einer verfehlten Agrarpolitik.
Was ist der Grund dafür?
Nehmen wir Indien. In den 70er- und 80er-Jahren wurde die Landwirtschaft industrialisiert und gleichzeitig staatlich gestützt. Es gab billige Kredite und Beratung. In den 90ern wurde diese Unterstützung abgebaut. Und letztes Jahr gab es wieder neue Agrargesetze, die die staatliche Regulierung auch beim Verkauf der Ernte abbauen. Dagegen sind seit einem Jahr Zehntausende indische Bauern auf der Strasse.
Silva Lieberherr (37) ist im Tösstal aufgewachsen und lebt heute in einer Wohngemeinschaft in Basel. Als Teenager hat sie die Juso Winterthur mitbegründet. Lieberherr hat einen Master in Agrarwissenschaften und einen Doktortitel in Geografie.
Sie war bei verschiedenen NGOs tätig und hat in Indien, Kirgistan, West- und Südafrika gearbeitet. Seit 2015 ist sie bei «Brot für alle», wo sie sich hauptsächlich mit dem Thema Landgrabbing beschäftigt. Lieberherr spricht neben Englisch, Französisch und Portugiesisch auch ein bisschen Hindi und Russisch.
Silva Lieberherr (37) ist im Tösstal aufgewachsen und lebt heute in einer Wohngemeinschaft in Basel. Als Teenager hat sie die Juso Winterthur mitbegründet. Lieberherr hat einen Master in Agrarwissenschaften und einen Doktortitel in Geografie.
Sie war bei verschiedenen NGOs tätig und hat in Indien, Kirgistan, West- und Südafrika gearbeitet. Seit 2015 ist sie bei «Brot für alle», wo sie sich hauptsächlich mit dem Thema Landgrabbing beschäftigt. Lieberherr spricht neben Englisch, Französisch und Portugiesisch auch ein bisschen Hindi und Russisch.
Was hat sich für die Bauern in den letzten Jahrzehnten verändert?
Landwirtschaft zu betreiben wird für sie immer schwieriger und riskanter. Um zum Beispiel überhaupt anbauen zu können, müssen die Bauern Dünger, Pestizide, Saatgut und Maschinen kaufen. Da sie kaum eigenes Kapital haben, müssen sie Kredite aufnehmen – mit extrem hohen Zinsen.
Dafür haben sie höhere Erträge.
Manchmal, aber leider passiert oft Folgendes: Der Bauer kommt irgendwie durch, bis etwas passiert, beispielsweise eine Flut oder ausbleibender Regen, schlechte Preise für die Ernte oder eine Krankheit in der Familie. Die Schulden wachsen immer mehr – bis sich im schlimmsten Fall ein Familienmitglied das Leben nimmt.
Die heutige Landwirtschaft überzeugt Sie also nicht.
Nein. Auch aus ökologischer Sicht nicht. Natürlich haben gewisse Methoden wie Düngemittel und Pestizide den Ertrag in einigen Bereichen kurzfristig nach oben gedrückt. Aber die Auswirkungen dieser auf Düngemittel und Pestiziden basierten Landwirtschaft sind gravierend – verschmutzte Gewässer, abgeholzte Wälder, Bodenerosion, ausgelaugte Böden. Die abnehmende Fruchtbarkeit der Böden ist weltweit ein riesiges Problem. Diese Art der Landwirtschaft trägt heute mit etwa einem Viertel zur Klimakrise bei.
Aber es heisst: Nur die extrem produktive industrielle Landwirtschaft kann die Weltbevölkerung ernähren.
Aktuell hungern auf der Welt 800 Millionen Menschen, weil sie sich das Essen nicht leisten können. Es geht in der heutigen Landwirtschaft nicht darum, dass zu wenig produziert wird.
Nicht?
Die Agrarfirmen können noch so lange mit Zahlen um sich schmeissen. Fakt ist: In den letzten 50 Jahren wurde weltweit eine Fläche fast so gross wie Indien mit nur vier Monokulturpflanzen angebaut: Soja, Palmöl, Raps und Zuckerrohr. Alle vier dienen primär als Futtermittel oder Agrartreibstoff, nicht der Ernährung von Menschen.
Wollen Sie zurück zur Selbstversorgung?
Auf keinen Fall. Kleinbauern wollen und sollen nicht nur für sich produzieren. Was wir brauchen, ist eine zukunftsgerichtete Landwirtschaft. Also eine, in der sowohl die neusten wissenschaftlichen Erkenntnisse als auch das traditionelle Wissen der Kleinbauern eingebunden wird – welche Pflanze wächst wo, welche Kulturen gedeihen neben- und miteinander, was hält Schädlinge ab, wie kann im Wald Landwirtschaft betrieben werden.
Das sehen Sie als Lösung?
Bestimmt. Die Sache ist allerdings: In der Landwirtschaft gibt es sowohl in der Schweiz wie auf der ganzen Welt Monopole. Also wenige Firmen, die alles kontrollieren. Dazu gehört die in der Schweiz ansässige Syngenta. Aber auch Monsanto, jetzt Bayer. Ihr Ziel ist es, nicht Böden zu schonen und Menschen satt zu machen. Ihr Ziel ist Profit.
Was erhoffen Sie sich vom anstehenden UN-Gipfel zur Nahrung in New York?
Nun, die Uno ist jüngst eine Partnerschaft mit dem WEF eingegangen. Das führt dazu, dass Konzerne, aber auch Akteure wie die Bill und Melinda Gates Stiftung einen verbesserten Zugang zur Uno haben. Sie sind nun fast auf der gleichen Ebene wie die Staaten. Das ist der Multi-Stakeholder-Ansatz, der undemokratisch ist und Machtverhältnisse ausblendet. Zugleich werden die grossen Bauernorganisationen, die Hunderttausende hinter sich vereinen, nicht nach New York eingeladen.
Wovor fürchten Sie sich?
Was an diesem Gipfel als Lösung für die Ernährungskrise gepusht wird, ist, was den Konzernen dient. Die wollen uns sagen, wie wir den Hunger bekämpfen und das Klima retten sollen. Obwohl sie die Motoren dieses Systems sind, das uns in diese schwierige Situation gebracht hat.
Das ist jetzt ein bisschen gar einfach, nicht?
Die Konzerne sind so übermächtig, dass wir das Gefühl haben, mit ihnen zusammenarbeiten zu müssen, wenn wir eine Veränderung in der Landwirtschaft erreichen wollen. Das ist verheerend.
Aber nicht unbedingt falsch.
Der Gewinn dieser Firmen muss irgendwo abgeschöpft werden. Wissen Sie wo?
Sagen Sie es mir.
Bei den Bauern und Landarbeiterinnen zum Beispiel. Die erhalten tiefe Löhne und müssen ihr Land fast gratis hergeben. Klar verteidigen die Konzerne diese Gewinnmöglichkeit und tun jetzt so, als ob sie Teil der Lösung für die Ernährungskrise sind. Das Gegenteil ist der Fall: Diese Firmen sind Teil des Problems.
Sie beschäftigen sich auch mit Landraub.
Ich bevorzuge das Wort Landgrabbing.
Warum?
Raub tönt so, als ob es illegal wäre. Das ist es im juristischen Sinn oft nicht. Es geht darum, dass Ländereien von Investoren zusammengerafft werden. Natürlich in Komplizenschaft mit Regierungen und lokalen Eliten.
Im Juli dieses Jahres zog die Uno eine erschreckende Bilanz: 2020 stieg die Zahl hungernder Menschen drastisch an, nicht zuletzt wegen der Pandemie. 811 Millionen Menschen, zehn Prozent der Weltbevölkerung, leiden an Unterernährung. Am 23. September findet deshalb der UN-Gipfel zu Ernährungssystemen in New York statt. Vertreter aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und der Landwirtschaft beraten dort über die grosse Frage, wie die Welt künftig ernährt werden soll.
Im Juli dieses Jahres zog die Uno eine erschreckende Bilanz: 2020 stieg die Zahl hungernder Menschen drastisch an, nicht zuletzt wegen der Pandemie. 811 Millionen Menschen, zehn Prozent der Weltbevölkerung, leiden an Unterernährung. Am 23. September findet deshalb der UN-Gipfel zu Ernährungssystemen in New York statt. Vertreter aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und der Landwirtschaft beraten dort über die grosse Frage, wie die Welt künftig ernährt werden soll.
Konkret bedeutet Landgrabbing?
Das Land wechselt aus der Kontrolle der Menschen, die es bebaut haben und davon lebten, hin zu den kapitalistischen Kreisläufen, also dem, was Profit bringt. Man baut Rosen an in Kenia und bringt die Europäer dazu, das ganze Jahr über Rosen kaufen zu wollen. In den wenigsten Fällen aber wird auf diesem Land Nahrung für die Menschen vor Ort produziert. Das Phänomen ist nicht neu: Schon während des Kolonialismus ist eine wahnsinnige Aneignung von Land passiert. Im grossen Stil wurde Landgrabbing dann als Folge der Finanz- und Nahrungsmittelkrise betrieben. Es gab damals viel frei verfügbares Kapital, für das sichere Anlagemöglichkeiten gesucht wurden. Also wurde in Land investiert.
Welche Regionen betrifft das?
In Ostdeutschland und Osteuropa wurden wegen einer verfehlten Agrarpolitik riesige Landstriche von Investoren aufgekauft. Dafür gibt es dann sogar EU-Subventionen. Das führt dazu, dass die ländlichen Strukturen kaputt gehen. In Rumänien ist das besonders extrem. Aussereuropäische Hotspots sind Indonesien, Malaysia, Brasilien, aber auch West- und Ostafrika. Ich habe gerade erfahren, dass eine liechtensteinische Firma im Kongo eine Konzession hält, um 4,1 Millionen Hektar Wald abzuholzen – das ist die Grösse der Schweiz.
Sie reisen immer wieder in Länder, die von Landgrabbing betroffen sind.
Was erfahren Sie da?
Ich war beispielsweise schon mehrmals in Sierra Leone auf einer Plantage. Dort pachtete ein Genfer Milliardär 50'000 Hektar Land, um Zuckerrohr anzubauen. Er besitzt eine Ölfirma und wollte in Biotreibstoff für die EU investieren. Zu seinen Investitionen kamen etwa 500 Millionen Franken von Entwicklungsbanken – also Steuergelder. Die Plantage galt als Vorzeigeprojekt.
Es kam anders?
Allerdings. Es gab von Anfang an Konflikte. Und kaum hatte die Produktion begonnen, ging das Projekt schon bankrott. Vor allem wohl wegen der tiefen Ernten und der tiefen Treibstoffpreise. Die Firma stoppte ihre Produktion von einem Tag auf den anderen. Für die Menschen war das ein Schock. Sie hatten nun kein Land und keine Jobs mehr. Nach eineinhalb Jahren erst fand sich ein neuer Investor. Und jetzt schon wieder ein neuer.
Der Milliardär aus der Schweiz ist noch zu einem Viertel beteiligt. Die Menschen vor Ort mussten erleben, dass sie die Kontrolle über ihre Lebensgrundlagen verloren haben.
Was bedeutet es im Alltag dieser Menschen?
Die ständige Frage: Wie bekomme ich genug Essen auf den Tisch für meine Familie?
Sehen Sie auf Ihren Reisen auch Hoffnungsvolles?
Immer! Ich habe schon viele beeindruckende Menschen getroffen. Frauen beispielsweise, die um Palmölplantagen herum leben. Viele von ihnen haben sexualisierte Gewalt erlebt auf den Plantagen, die auf ihrem einstigen Land stehen. Oft durch die Wächter. Diese Bäuerinnen haben sich lokal organisiert und reden nun öffentlich über die Gewalt, die ihnen angetan wurde. Das braucht viel Mut und Kraft. Doch sie gehen bis zu den Ministern, um ihnen zu sagen: Das ist uns passiert, das sind unsere Probleme. Wir wollen, dass es aufhört. Und ein Kameruner, der einst selbst um sein Land kämpfen musste, geht nun zu Bewohnern anderer Dörfer und sagt ihnen: «Hey, das ist unser Land, wir können gewinnen. Wenn wir zusammenhalten, sind diese Firmen nicht übermächtig.»
Kamerun, Indien und Sierra Leone sind weit weg. Was können wir hier tun?
Diesen Menschen glauben schenken, wenn sie erzählen, was ihnen widerfährt. Das sind Bäuerinnen und Bauern, die ein grosses Wissen über die Natur und ihre Abläufe haben, aber meist in ärmlichen Umständen leben. Sie haben im Gegensatz zu diesen Konzernen keine Armada von PR-Leuten und Anwälten auf ihrer Seite.