«Nur dank dem Internet stehen wir diese Krise durch»
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Adrian Lovett
«Nur dank dem Internet stehen wir diese Krise durch»

Adrian Lovett hält das Internet nicht für das Problem, sondern für die Lösung. Der Aktivist und CEO der World Wide Web Foundation erklärt, wieso Zugang zum Netz ein Menschenrecht ist, wie man Fake News bekämpfen kann und was Tech-Giganten wie Facebook dafür tun müssen.
Publiziert: 26.09.2020 um 14:46 Uhr
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Aktualisiert: 27.09.2020 um 07:34 Uhr
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Adrian Lovett ist CEO der World Wide Web Foundation. Er kämpft für ein freies, unzensiertes Internet.
Foto: ZVG
Benno Tuchschmid

Alle Menschen sollen Zugang zum Internet haben. Das ist eine der Kernforderungen von Adrian Lovett, Aktivist und Chef der Nichtregierungsorganisation World Wide Web Foundation. Das Video-Interview mit dem SonntagsBlick Magazin scheitert allerdings beinahe – an einer schlechten Internetleitung. Lovett, der sich gerade bei seiner Mutter in Südengland aufhält, sucht im ganzen Haus nach gutem Empfang. Er sagt lachend: «Das ist nun wirklich Ironie des Schicksals.»

Wieso mögen Sie eigentlich das Internet?
Adrian Lovett: (lacht) Es ist eines der grössten Geschenke, das die Menschheit je erhielt. Und entwickelt wurde es bei euch in der Schweiz, genauer am Cern in Genf, vor 31 Jahren.

Wie war das Internet damals im Vergleich zu heute?
Man kann es vielleicht so vergleichen: Damals war es ein kleines Sitzungszimmer in einer Universität, in dem Akademiker rumhängen.

Und was ist es heute?
Heute ist das Web wie eine Mega-City, in der es alles für alle gibt: Arbeitsplätze, Shopping Malls, Freizeitparks ...

Aber auch ganz viele Menschen mit schlechten Absichten …
Jede neue Technologie wird missbraucht. Auch die Steinklinge konnte zum Schaden der Menschen eingesetzt werden. Beim Internet ist das Ausmass einfach viel grösser, weil es so allumfassend ist. Wir von der Stiftung Web Foundation und unser Gründer Tim Berners-Lee, der Erfinder des Internets, fordern deshalb, dass man aggressiv gegen jeglichen Missbrauch des Internets vorgeht.

Werden wir konkret. Bei der Corona-Krise verbreiten sich übers Netz Verschwörungstheorien …
Vergessen Sie bitte nicht, dass diese Krise ohne das Internet noch viel schlimmer verlaufen wäre.

Inwiefern?
Es ermöglichte den Menschen, trotz Corona Geld zu verdienen, sich zu informieren, zu lernen, mit Freunden und Familie in Kontakt zu bleiben. Nur dank dem Internet stehen wir diese Krise überhaupt durch.

Okay, aber eben: die Falschinformationen …
Im Netz gibt es derzeit im Bezug auf Corona zwei grosse Problemfelder: Falschinformationen und Datenschutz. Hier müssen die Politik und die Wirtschaft entschieden handeln. Aber gerade bei Fake News sind wir auch als Individuen gefordert. Wenn Filme oder Artikel im Netz so wirken, als wären sie zu schön, um wahr zu sein, dann sind sie meistens nicht wahr. Und dann soll man sie auch nicht teilen und weiterverbreiten. Aber es gibt noch ein drittes Problemfeld, über das wir leider viel zu wenig sprechen und das ich für mindestens so wichtig halte.

Und zwar?
3,5 Milliarden Menschen haben überhaupt keinen Zugang zum Internet. In Afrika sind es drei Viertel der Bevölkerung. Aber auch in wirtschaftlich starken Ländern gibt es Probleme.

Welche?
Viele einkommensschwache Personen haben nur begrenzten Zugang zum Netz. In New York zum Beispiel hat ein Drittel der Haushalte keine Breitband-Internet-Verbindung. In Spanien gibt es in jedem fünften Haushalt keinen Computer.

Aber ist das nicht ein Luxusproblem?
Zugang zum Netz über ein Smartphone oder einen Laptop ist heute so essenziell wie der Zugang zu Elektrizität oder Wasser.

In der Schweiz regen sich Bürger immer wieder auf, wenn sie Flüchtlinge mit Smartphones sehen.
Viele Menschen glauben, wer ein Smartphone hat, könne nicht arm sein. Das ist eine ziemlich altmodische Ansicht. Ein rudimentäres Smartphone ist der einfachste Zugang zum Netz – und der wird heute schlicht erwartet, um sich zum Beispiel für einen Job zu bewerben. Oder um Zugang zum Gesundheitssystem zu erlangen. Oder immer öfter auch, um am demokratischen Prozess teilzunehmen.

Woran genau liegt es, dass gerade in unterentwickelten Ländern der Zugang zum Netz fehlt?
Lange lag es daran, dass es in weiten Teilen der Welt schlicht keinen Empfang gab. Also kein 3G- oder 4G-Netz. Aber das ändert sich gerade sehr schnell. Zwei Drittel der Welt-bevölkerung hätten theoretisch die Möglichkeit, online zu gehen.

Also liegt es am Preis?
Ja, der Internetzugang ist dort besonders teuer, wo es sich die Menschen am wenigsten leisten können. Gemessen am Einkommen kostet ein Gigabyte Daten in Afrika fünfmal mehr als in Europa. Das limitiert den Zugang dramatisch. Und dann fehlt es vielen Menschen auch an den Fähigkeiten, das Internet zu nutzen. Das liegt unter anderem auch daran, dass die Mehrheit des Inhalts sich auf drei bis vier Sprachen beschränkt. Das schliesst ganze Weltregionen aus.

Sie hatten aufgrund der Corona-Krise von Telekomfirmen gefordert, die Datenlimits zu erhöhen. Kamen die Firmen Ihren Forderungen nach?
Es gab einige positive Beispiele, ja. Aber es gibt Luft nach oben. Auch die Wirtschaft muss begreifen, dass solche Krisen nach ausserordentlichen Massnahmen verlangen.

Die World Wide Web Foundation hat eine Initiative ins Leben gerufen, die sich «Vertrag für das Web» nennt – und die unter anderem von Facebook unterzeichnet wurde. Firmen sollen Technologien entwickeln, die «das Beste im Menschen» fördern, heisst es da. Hält Facebook dieses Versprechen ein?
Keine der grossen Tech-Firmen hält dieses Versprechen heute vollständig ein. Noch nicht. Wir erwarten von diesen Firmen ernsthaftes Engagement, und wenn sie dies nicht leisten, werden wir das thematisieren.

Sie meinen zum Beispiel politische Werbung auf Facebook, wie Sie unter anderen Donald Trump 2016 geschaltet hat …
Ganz genau. Fast überall auf der Welt ist es heute möglich, via Facebook hyperpräzise, personalisierte politische Werbung zu schalten.

Im Dienst der Schwächsten

Adrian Lovett (50) ist Präsident und CEO der World Wide Web Foundation, die sich für ein freies und für alle zugängliches Internet einsetzt. Lovett arbeitet seit über 20 Jahren in Nichtregierungsorganisationen, unter anderem für Oxfam und Save the Children. Vor seinem aktuellen Job leitete der Brite die vom U2-Sänger Bono gegründete Hilfsorganisation One, die sich dem Kampf gegen extreme Armut verschrieben hat. Lovett lebt in Oxford, ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Adrian Lovett (50) ist Präsident und CEO der World Wide Web Foundation, die sich für ein freies und für alle zugängliches Internet einsetzt. Lovett arbeitet seit über 20 Jahren in Nichtregierungsorganisationen, unter anderem für Oxfam und Save the Children. Vor seinem aktuellen Job leitete der Brite die vom U2-Sänger Bono gegründete Hilfsorganisation One, die sich dem Kampf gegen extreme Armut verschrieben hat. Lovett lebt in Oxford, ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Wieso ist das gefährlich?
Eine politische Partei kann Zielpersonen auswählen und diese mit individuell zugeschnittenen Botschaften füttern. So etwas war in der Geschichte der Menschheit noch nie möglich. Das führt dazu, dass Politiker je nach Empfänger komplett unterschiedlich Propaganda schalten. Facebook ist unseren Forderungen in diesem Bereich bisher leider nicht nachgekommen.

Gibt es im Internet zu viele oder zu wenige Regeln?
Es geht nicht darum, möglichst viele Regeln aufzustellen, sondern möglichst gute. Jede Technologie muss reguliert werden, das ist klar. Aber das Resultat muss uns näher an die ursprüngliche Vision für das Web bringen: nämlich, ein öffentliches Gut zu sein, das für alle zugänglich sein muss.

Das Problem ist doch: Staaten sollen das Internet regulieren, sind aber im World Wide Web Teil des Problems!
Absolut. Mehr Staat ist im Netz sicher nicht immer die Lösung. Wir haben zum Beispiel überall auf der Welt immer wieder das Problem, dass Regierungen das Internet abschalten. Und das darf nie die Antwort sein.

Zum Schluss nochmals zurück zum Anfang: Wie genau erfand Tim Berners-Lee eigentlich das World Wide Web?
Das Cern wuchs 1989 stark, und es wurde zusehends schwieriger, die Adressen und Telefonnummern aller Mitarbeiter immer auf dem neuesten Stand zu halten. Also schrieb Tim Berners-Lee ein Arbeitspapier mit einem Vorschlag, wie man Computer vernetzen und Information für alle einsehbar machen könnte. Sein Chef sagte ihm, die Idee sei nicht uninteressant, er solle es mal versuchen, aber bitte seinen eigentlichen Job nicht vergessen. Der Rest ist Geschichte.

World Wide Web Foundation

Die World Wide Web Foundation setzt sich für ein freies und offenes Internet ein. Unter anderem will die Organisation in Zusammenarbeit mit Vertretern der Wirtschaft und verschiedener Regierungen dafür sorgen, dass alle Menschen Zugang zum Internet erhalten. Mit der Initiative «Contract for the Web» (Vertrag fürs Netz) sollen zudem Tech-Firmen und Regierungen verpflichtet werden, dafür zu sorgen, dass das Internet dem Gemeinwohl dient und unter anderem Falschinformationen und Zensur bekämpft werden. Mitbegründet wurde die World Wide Web Foundation von Tim Berners-Lee (65), der das Web 1989 am Cern in Genf erfunden hat.

Die World Wide Web Foundation setzt sich für ein freies und offenes Internet ein. Unter anderem will die Organisation in Zusammenarbeit mit Vertretern der Wirtschaft und verschiedener Regierungen dafür sorgen, dass alle Menschen Zugang zum Internet erhalten. Mit der Initiative «Contract for the Web» (Vertrag fürs Netz) sollen zudem Tech-Firmen und Regierungen verpflichtet werden, dafür zu sorgen, dass das Internet dem Gemeinwohl dient und unter anderem Falschinformationen und Zensur bekämpft werden. Mitbegründet wurde die World Wide Web Foundation von Tim Berners-Lee (65), der das Web 1989 am Cern in Genf erfunden hat.

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