Vom Labor auf die Fleischtheke
Klimaschutz ist wichtiger als ein gutes Gewissen

Hilft das künstliche Poulet den Tieren – und sogar dem Klima? Die Antwort ist kompliziert. Und die Migros sollte der Euphorie der Foodtech-Branche mit Vorsicht begegnen.
Publiziert: 23.10.2022 um 11:22 Uhr
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Aktualisiert: 24.10.2022 um 10:50 Uhr
Joschka Schaffner ist Redaktor beim SonntagsBlick Magazin.
Foto: Thomas Meier
Joschka Schaffner

Pouletbrust aus dem Labortank: Migros investiert in die Ernährung der Zukunft. Dazu spannt der Grossverteiler mit dem israelischen Foodtech-Unternehmen Supermeat zusammen. Schon in drei Jahren sollen in Schweizer Regalen Geflügelprodukte aus der Retorte stehen. Die Vorteile, wenn man dem Hersteller glaubt: kein Tierleid, weniger Ressourcenverschleiss, geringere Auswirkungen auf das Klima.

Aber ist das Labor-Poulet tatsächlich eine ethisch vertretbare Alternative zum Klimakiller Tierzucht? Die Wahrscheinlichkeit, dass der Plan nicht aufgeht, ist hoch. Grosse Investitionen in die Foodtech-Branche führen zu wirtschaftlichen Zwängen, in deren Folge Umweltprobleme nicht gelöst, sondern bloss verlagert werden. Statt die Welt zu retten, könnten die Emissionen der beteiligten Unternehmen den Ausstoss von Kohlendioxid sogar erhöhen. Die Produktion von Laborfleisch erfordert einen immensen Energieaufwand. Sinnvoll ist das nur, wenn der Strom aus erneuerbaren Quellen stammt. Sonst werden die Treibhausgase aus der Tierzucht lediglich durch Unmengen an CO₂ aus der Verbrennung fossiler Energieträger ersetzt. Es klingt beinahe absurd, wenn Foodtech-Unternehmen ihre Expansionspläne ausgerechnet mitten in einer globalen Energiekrise verkünden.

Klar, Laborfleisch hat Vorteile: Weil es Millionen von Nutztieren ersetzen kann, wird weniger Weideland und weniger Wasser gebraucht. Weniger Rinder bedeuten auch weniger Methan-Emissionen aus deren Verdauungstrakt, und Gewässer werden nicht mehr mit Ammoniak aus Tiermist überdüngt. Zudem müssen für das kultivierte Fleisch keine Tiere mehr geschlachtet werden. Aber reicht das, um nachhaltig zu sein?

Verlässliche Studien zu den Umweltauswirkungen des Laborfleischs sind rar – die Branche gibt sich verschwiegen. Das macht skeptisch. Wissenschaftliche Hochrechnungen aufgrund der beschränkten Datenlage zeigen, dass Poulet aus dem Labor grössere Umweltbelastungen als herkömmliches Geflügel bedeuten könnte. Ethisch betrachtet wäre es also kaum die ideale Wahl.

Dazu kommen hohe Kosten: Die Züchtung der Tierzellen ist zwar effizienter als die Tiermast, ihre komplexe Zusammensetzung macht sie aber teuer. Und die Arbeit mit lebenden Zellen ohne Immunsystem erfordert gegenwärtig noch eine komplett keimfreie Produktion. Zu hohen Anschub-Investitionen kommt ein grosses Risiko von Produktionsverlusten. Kann sich die Technologie von diesen Handicaps befreien? Wenn nicht, wird es schwierig mit Nachhaltigkeit und Marktfähigkeit.

Wagen wir eine Prognose: Es ist 2026. Im Migros-Supermarkt unter dem Zürcher Hauptbahnhof liegen neben Kalbsnierstücken und pflanzlichen Burgern auch Pouletstücke aus dem Hause Supermeat. Wer greift zu einem Angebot, das weder im Preis mit pflanzlichen Produkten mithalten kann, noch mit höherem Umweltnutzen als herkömmliches Poulet punkten kann? Weniger Tierleid ist gut, doch der Klimawandel ist wichtiger. Auch andere Ersatzprodukte stehen bereits in der Kritik, durch Preisdruck und komplexe Verarbeitung wenig Ressourcen einzusparen.

Die Migros tätet also gut daran, die Entwicklung kritisch zu beobachten – und, wenn nötig, die Reissleine ziehen.

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