Milena Moser über Vicky, die im Unglück ihr Glück fand
Glück lässt sich nicht aussperren

Ich platze gleich vor Dankbarkeit. Weil das Fieber weg ist, weil Victor sich nicht angesteckt hat, weil wir so viel Anteilnahme erfahren und weil mir das Leben immer wieder beweist, dass es die besten Geschichten schreibt.
Publiziert: 18.04.2020 um 10:47 Uhr
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Aktualisiert: 08.05.2020 um 16:09 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: David Butow 2019

Vicky ist nur zehn Jahre jünger als ich, aber sie weckt eine mütterliche Fürsorge in mir. Vielleicht, weil so viele ihrer Geschichten in Bars beginnen oder weil so unangenehme Männer in ihnen vorkommen. Aber ich mag sie, ihr schiefes Grinsen, ihren unerschütterlichen Optimismus.

Sie wohnt gleich um die Ecke, wir kannten uns vom Sehen, irgendwann wurde das Sehen zum Grüssen, das Grüssen zum Schwatzen und schliesslich zum Kaffeetrinken. So einfach geht das manchmal. Zwei Tage bevor die Schutzmassnahmen verhängt wurden, trafen wir uns in der Pizzeria um die Ecke, tranken Wein und knabberten an den besten Oliven der Welt.

«Du glaubst nicht, was mir wieder passiert ist», begann sie, und ich wappnete mich. Doch damit hatte ich dann doch nicht gerechnet: «Ich habe Krebs.» Schnell leierte sie die Einzelheiten herunter, die sie schon so oft wiederholt haben musste, dass sie an Bedeutung verloren hatten: Brustkrebs, früh erkannt, sehr gute Heilungschancen. «Die Operation ist übermorgen.»

Ihre Freundinnen hatten bereits alles organisiert. Wer sie ins Spital begleitete, wer bei ihr blieb, wer sie nach Hause fahren, wer die ersten Tage in ihrer Wohnung bleiben würde. Vicky hat wunderbare Freundinnen, die auch meine mütterliche Besorgnis um sie in Schach halten.

«Aber das Beste hast du noch gar nicht gehört!», sagte sie und schenkte uns nach: «Ich habe mich verliebt!»

Am selben Abend, an dem sie die Diagnose erhalten hatte, traf sie sich mit ihren Freundinnen in einer Bar. Während sie wartete, fiel ihr ein Mann auf, den sie hier noch nie gesehen hatte. «Er hatte liebe Augen.» Kurzentschlossen ging sie auf ihn zu: «Ich heisse Vicky, und ich habe Krebs. Spendierst du mir einen Drink?»

«Ich heisse Chris, und ich weiss, wer du bist.» Er hatte sie schon öfter hier gesehen, doch nie den Mut gefunden, sie anzusprechen. Sie redeten, bis die Bar schloss, dann begleitete er sie galant bis zu ihrer Haustür. In den zwei Wochen zwischen Diagnose und Operationstermin hatten sie sich fast jeden Tag gesehen. Und auch schon geküsst. Mehr nicht – «er ist ein Gentleman», kommentierte Vicky etwas verwundert. Trotzdem wollte sie nicht, dass er sie im Spital besuchte. «Es ist alles noch zu frisch.» Doch am selben Tag, an dem die Operation stattfand, wurde die Schutzmassnahme verhängt. Vickys Freundinnen durften sie weder im Spital noch zu Hause besuchen. Chris beschloss, sie seien sich in den letzten Wochen schon zu nahe gekommen, um eine allfällige Ansteckung zu verhindern, und zog kurzerhand bei ihr ein. Er pflegte sie, kümmerte sich um sie, brachte sie zum Lachen, kochte für sie. Und auch als der Befund nicht so positiv ausfiel wie erhofft, Chemotherapie und Bestrahlung nötig machten, wich er nicht von ihrer Seite.

«Ich war noch nie so glücklich», strahlt Vicky mich heute von meinem Computerbildschirm an, aus diesem Quadrat rechts oben, wo jetzt alle meine Freunde wohnen. «Danke, Krebs. Danke, Corona. Ohne euch wäre das nie passiert!»

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